VBE: Gewissenserforschung mit Doppelherz

Noch unter dem Eindruck der hervorragenden VBE-Vertreterversammlung in Pforzheim stehend, drängen sich mir Fragen auf. In seiner Satzung bekennt sich der VBE einerseits dazu, über Bildung und Erziehung der Selbstverwirklichung des Menschen zu dienen und für das Verhalten in der Welt auszustatten. Dabei ist das Verständnis für Demokratie zu wecken und demokratisches Verhalten einzuüben. 

Des Weiteren -wir sind ja ein Verband, in dem sich die engagierten Lehrkräfte versammeln- vertritt der VBE die berufspolitischen, rechtlichen und sozialen Belange des Lehrerstandes und der Verbandsmitglieder. 

Und so sehe ich mich immer wieder in der Situation, wie „damals“, als ich vor der Erstkommunion den Umgang mit dem Beichtspiegel lernte, vor der Gewissenerforschung. Dabei geht es aber im Gegensatz zu früher nicht um Gut oder Böse, sondern um zwei sich beeinflussende Fragestellungen, die wie zwei Herzen in meiner  Brust schlagen: einerseits ist es die Aufgabe des Lehrerberufes, Wissen weiterzugeben, Verhaltensweisen einzuüben und damit auch in zweiter Linie [siehe Art 6 (2) GG] die Erziehungsberechtigten in der Erziehung zu unterstützen. 

Dem gegenüber steht die schulische, gesellschaftliche und bildungspolitische Realität: 

  • zu wenig Lehrkräfte schon alleine für den Pflichtunterricht -da reden wir noch gar nicht über Zusatzaufgaben-, 
  • das nimmermüde-werdende Abladen gesellschaftlicher Problemstellungen auf die Schulen durch die Politik, ohne dies mit Ressourcen zu unterfüttern,
  • die Ignoranz der Politik, das engagierte Verhalten der Lehrkräfte durch Wertschätzung zu honorieren.

Vieles wäre hier noch anzufügen, ich will es bei einigen Stichworten belassen: Verhinderung von Geldströmen Bund – Land durch das Kooperationsverbot, Verweigerung der Erhöhung der Kapazitäten beim Lehramtsstudium, Nichtanerkennung der Gleichwertigkeit der Lehrämter in allen Schularten, Schlechterstellung der tarifbeschäftigten Lehrkräfte (Angestellte), Beförderungsstau für Fachlehrer und Gymnasiale an Gemeinschaftsschulen – und so weiter und so fort. 

Und so tun sich unter dem Aspekt des Doppelherzens in der Brust Fragestellungen auf, die ich an vier ausgewählten Thematiken verdeutlichen werde: 

Digitalisierung

Die grün-schwarze Regierung in Baden-Württemberg wollte mit der Bildungsplattform für „elektronische Lehr- und Lernassistenz“ (Ella) an den anderen Bundesländern vorbeiziehen und die Digitalisierung im Schulsektor im „Ländle“ entscheidend voranbringen. Doch das Prestigeprojekt kam wegen  „massiven technischen Problemen“ (man beachte den Genitiv!) und einem „höchst unerfreulichen Vorgang“ zum Erliegen. Der Start wird auf bisher nicht definierte Zeit verschoben. Neun Millionen EUR wurden bisher ausgegeben und -man muss es deutlich benennen- in den Sand gesetzt. Meines Wissens wurde noch von niemandem darüber nachgedacht, wer diese neun Millionen Euro dem Steuerzahler, der sie ja finanziert hat, wie ersetzt. 

Die Opposition wirft sich in die Bresche und klagt an. Zu Recht natürlich. Zumindest die SPD und FDP vergessen dabei, dass auch die bisher auf den Weg gebrachten Programme zur Schulverwaltung ihre Macken haben und zu keinem Zeitpunkt so funktionierten, dass man das Wort „reibungslos“ als Prädikat einsetzen müsste. Belastung hier, Belastung da. Das obige Beispiel steht ja wirklich nur als Beispiel. Schauen wir doch auf unsere „hochmodernen“ Digital-Räume: Wo sind die Tablets für die Schüler? Wo ist das schnelle Internet? Wo sind die Schulhäuser mit der erforderlichen Infrastruktur? 

Das Doppelherz betreibt Gewissenserforschung: Und die Konsequenz für den VBE? Sollen wir uns verweigern und den Umgang mit digitalen Medien ad acta legen? Ist das angesichts der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung vor dem Gewissen und dem Arbeitgeber vertretbar? Sollen die Lehrkräfte den Unterricht in der Digitalwüste trotzdem vorantreiben? Oder: Soll ich zu den vielen Belastungen im Alltag einen weiteren Zentner auf mich nehmen? Hat es einen Sinn unter schlechten Voraussetzungen?

Ganztagesschule

Das Wort „Erziehung“ in den Mund zu nehmen, fällt heute vielen Lehrkräften meiner Generation schwer. Wir sehen die Digital Natives in vielen Altersstufen mit den neuesten Smartphones zu jeder Gelegenheit. Einschränkungen oder Regeln im Umgang scheint es nicht zu geben. Wir sehen die Kinder, die nicht wissen, wie man mit anderen kommuniziert und deshalb die Ellbogen und Fäuste einsetzen. Wir sehen eine mangelnde Sprachbasis und eine fehlende Kommunikationskompetenz. Wir sehen zunehmende Unfähigkeiten im handelnden Umgang mit Alltagsgeschehnissen. Wir sehen Mobbing, das durch die asozialen Medien leider ungemein erleichtert wird und, und, und….

Also könnte man doch zur Einstellung gelangen, dass der Staat hier die Erziehung anstelle der Erziehungsberechtigten weitgehend übernehmen muss. Die Sozialhaushalte der Kommunen sind ausgaben-aufgebläht wie nie, der Staat verzichtet darauf, Erziehungsberechtigte auch zu Erziehungsverpflichteten zu machen. Die Ganztagesschule ist geboren, egal ob in offener oder gebundener Form. Was Sinn macht und was nicht, diskutieren die Lehrkräfte durchaus kontrovers. Die Einen postulieren, dass Ganztagesschule nur Sinn mache, wenn sie in gebundener Form betrieben wird, da nur dies die Schüler/innen weiterbringe, die anderen wollen die Eltern nicht ganz aus der Verantwortung entlassen und plädieren für die offene Form. 

Nur eines steht felsenfest fest: Egal, welche Form gewählt und gewünscht ist: die Politik hält die Ressourcen knapp. Sparflamme ist angesagt.

Und schon beginnt Doppelherz wieder mit der Gewissenserforschung: „Irgendwie“ werden wir die Kinder doch in die Spur bekommen? Müssen wir nicht von Beruf Optimisten sein, um Erfolge vorweisen zu können? Ist es nicht unsere verdammte Pflicht, diese Welt täglich ein Stückchen besser werden zu lassen? Oder: Ist das bisschen Schulnachmittag wirklich mehr als der Tropfen auf dem heißen Stein? Kann man da überhaupt etwas Positives bewirken? Sollen wir die Eltern halbtagesweise aus der Verantwortung entlassen?

Inklusion

2006 unterzeichnete Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und verpflichtete sich damit, ein inklusives Schulsystem umzusetzen. Im Wortlaut sagt Artikel 24 der Konvention: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen…“. „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] Menschen mit Behinderungen geleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben. […]“

Dies bedeutet konkret: Alle Kinder werden gemeinsam an Grundschulen und weiterführenden Schulen unterrichtet. Aber auch in anderen Teilen des Bildungswesens muss Inklusion umgesetzt werden, vor allem in den Bereichen der beruflichen Ausbildung und an den Fachhochschulen und Universitäten.

OK! Unterschrieben haben diese Konvention auch viele andere Staaten. Die Umsetzung läuft allerdings höchst unterschiedlich. Staaten, die sich auf ihren Erfolg berufen (z.B. Südtirol, Italien), berufen sich meist auch auf die PISA-Studien. Dass diese durchaus kritisch zu sehen sind wurde im Stichwort 10 / 2018 thematisiert. In Deutschland gibt es nach dieser Aufstellung durchaus „erfolgreiche“ Bundesländer (Bremen oder Schleswig-Holstein) aber auch weniger erfolgreiche wie Bayern auf dem Platz des Schlusslichts. Da drängt sich doch dem unbedarften Beobachter sofort auf, dass bei PISA-Leistungstests Bayern in der Regel „vorne“ zu finden ist, während Bremen …(STOPP! Es gibt Dinge, die man in unserem Land nicht mehr denken und aussprechen darf ohne gleich in eine entsprechende Schublade geworfen zu werden.) 

Und erneut beginnt Doppelherz zu Grübeln: Müssen wir uns nicht an unterschriebene Konventionen halten? Hat nicht jedes Menschenkind ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe? Müssen wir nicht alles in unseren Kräften Stehende tun, um Kinder mit Behinderungen einzugliedern?  Oder: Ist es nicht sinnvoller, Kinder mit bestimmten Handicaps in Spezialschulen zu schicken, in denen die Ausstattung um ein Vielfaches besser ist, als in Regelschulen? Soll ich mir zu meinen vielfältigen Belastungen im Schulalltag diese Arbeit auch noch aufladen, wo ich doch weiß, dass ich als Klassenlehrer in sowieso zu großen Klassen dieser Aufgabe nicht im Entferntesten gerecht werden kann? Warum bekomme ich nicht in allen Stunden eine Zweitbesetzung für die Inklusion?

Gemeinschaftsschule (GMS)

Schnell, zu schnell, wurde die Gemeinschaftsschule eingeführt um eine zweite Säule neben dem Gymnasium zu entwickeln. Mit dieser Einführung brauchte man auch Gelingensbedingungen, denn diese Schulart unterscheidet sich per se von anderen Regelschulen. GMS sind Ganztagesschulen, GMS sind Inklusionsschulen, GMS haben andere Methoden der Leistungsfeststellung, GMS haben weitgehend keine Noten, GMS haben andere Begrifflichkeiten. Ein Lerncoach tut etwas anderes als eine Lehrkraft. Schüler gibt es gar keine mehr, sondern Lernpartner usw. usf. An diesen wenigen Beispielen sehen wir, wie die Politik bis heute die Lehrkräfte im Regen stehen lässt, denn seit fünf Jahren erfindet das Lerncoach-Kollegium das Rad neu, ohne dass von „oben“ revolutionäre Hilfe geleistet wird. Wenn Politik die Parameter von Lernen entscheidend verändert, dann braucht es auch Menschen, die dieses Gedankengut umsetzen. Wenn aber die vormaligen Lehrkräfte weiterhin für die Fortschritte des Lernpartner-Wissens gebraucht werden, dann wäre es doch eigentlich logisch, zusätzlich Personal bereitzustellen, um die Rahmenbedingungen weiter zu entwickeln. Wir wissen: das Gegenteil ist geschehen, Stellen wurden gestrichen, obwohl die Schülerzahlen stiegen. Deshalb behaupte ich: zu keinem Zeitpunkt stellte das Land den GMS bisher das Personal bereit, welches es tatsächlich benötigte. Viele Bürgermeister haben gar keine Ahnung, was eine GMS an Ausstattung und finanziellen Mehrausgaben braucht, um diese Schulart zum Erfolg zu führen. 

Doppelherz betreibt Gewissenserforschung: Die Schüler unserer GMS haben diese Schulart gewählt, weil er ihrem Naturell am ehesten entspricht. Ich muss den eingeschlagenen Weg fortführen? Wo bekomme ich weitere Hilfen und Gelder her, um erfolgreiche Wege weiter zu beschreiten? Haben die Lernpartner nicht verdient, ihren erfolgreichen Weg mit Qualitätsanspruch weiter zu gehen?   Oder: Muss ich mir das auch noch antun? Wieso werden mir erfolgreiche Medien nicht von oben zu Verfügung gestellt? Wie lange dauert es, bis ich unter der zunehmenden Last gesundheitliche Schäden erleide? 

Und dann erfolgt die Umsetzung

Und nun, liebe/r Leser/in, um auf den ersten Satz zurück zu kommen: Wie hätten Sie entschieden? Welche Fragestellung hätten Sie in Ihrer Entscheidung wie beeinflusst? In einer Vertretersammlung ist es schwer, sich nicht zu entscheiden, auch wenn das Thema, das gerade abgestimmt wird, gar nicht im Gesichtsfeld des abstimmenden Mandatsträgers ist. Aber es ist deutlich leichter mit den Ergebnissen der Abstimmungen umzugehen. Wie es in einer echten Demokratie üblich ist, entscheidet die Mehrheit. Oftmals richten Lehrkräfte den Blick vom  Ich weg, hin zum Wohl des Schülers. Aber denken wir immer wieder daran: Es gibt auch einen Arbeits- und Gesundheitsschutz auf den wir Anspruch haben. Und den fordert der VBE eben auch ein: Nicht „on top“, sondern als verpflichtende Anrechnung auf die Arbeitszeit. Und das ist gut so!

 Josef Klein, Mitglied im Landesvorstand