Freitag, 15:48 Uhr – und das Haar sitzt! Eigentlich wollten wir alle jetzt dann mal gehen, als plötzlich dieses magische Geräusch in Form des Signaltons „E-Mail ist da“ ertönt. Um es mit einem bekannten deutschen Comedian zu sagen: Ich wusste nicht, ob Sie es wussten, aber genau das ist der Zeitpunkt, an dem wieder einmal ein „Liebesbrief“ aus Stuttgart an den Schulen eintrifft. Meist unterzeichnet mit einem handschriftlichen Kommentar, der einem für seinen unermüdlichen Einsatz dankt.
Am Anfang fanden wir das ja noch charmant. Meine sehr positivistische Konrektorin sagte einmal dazu: „Oh, das ist aber mal nett.“ Inzwischen raschelt sie aber eher nur noch mit den Augenbrauen, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Ihr Chef ist da nicht ganz so charmant. Da wir aber als Lehrer auch Vorbild sein sollen, verzichte ich an dieser Stelle auf den Originalwortlaut des Kommentars. Meine Konrektorin meinte dazu nur noch, dass ich mich nicht so anstellen solle. Das Wetter sei eh bescheiden am Wochenende und dann machen wir es halt wieder einmal. Aufs Neue umsteuern.
Wieder einmal neue Pläne machen. Abermals mehr den Notbetreuungsbedarf abfragen, die Eltern informieren, die Rückmeldungen sammeln, koordinieren und vor allem auch das Kollegium informieren, das eigentlich schon in seinem mehr als verdienten Wochenende ist.
Bewunderung für die Lehrkräfte in Baden-Württemberg
Überhaupt bewundere ich meine Lehrerinnen und Lehrer sehr, in welch stoischer Gelassenheit sie wieder einmal alles ertragen und nebenher dann auch noch im Sinne für die uns anvertrauten Kinder alles stemmen, ohne Muh und ohne Mäh. Aber applaudiert irgendwer oder zahlt ihnen eine Prämie? Zum Dank wird dann eher laut darüber nachgedacht, die Ferien zu verkürzen oder zusätzliche Angebote in den Ferien zu etablieren.
Na ja, es gibt sie zum Glück schon, die dankbaren Eltern, wenngleich die anderen zu der kleinen, aber mehr als lauten Fraktion gehören, die einem eigentlich nur Arbeit besorgt mit ihren „gut gemeinten“ Kommentaren. Den einen macht man zu wenig, den anderen geht alles viel zu weit. Was müssen wir als Lehrkräfte nicht alles an Meinungsäußerungen ertragen? Manchmal könnte man meinen, wir wären keine Menschen, keine Eltern, die genau wüssten, wie es ist, wenn man neben dem Haushalt her noch im Homeoffice das Fernlernen und die Unterrichtsvorbereitung für zig Klassen unter den Hut bringen muss. Da macht man Videokonferenzen, stellt Aufgaben ein, dreht Videos, macht mal einen Live-Input, kämpft mit technischen Unzulänglichkeiten, wie Serverkapazitäten, telefoniert denen hinterher nebst Hausbesuch, die man nicht erreicht, verteilt Aufgaben dann noch persönlich und ja – macht auch noch Präsenzunterricht (wenn möglich – Schnelltest nicht vergessen) und ist in der Notbetreuung eingeteilt.
Und dann kommt noch so eine Motz-Mail. Natürlich bleiben wir da professionell, obwohl man eigentlich nur schreien wollte: „Hallo! Jemand zu Hause da oben?!“ Ist das der „New Spirit“ im gesellschaftlichen Diskurs?
„Entspanne dich. Orientiere dich doch einfach an den positiven Rückmeldungen“,
klingt es aus dem anderen Büro, in dem meine Konrektorin und mein Konrektor zusammen über einer Gemüseschale sitzen und endlich Mittagspause machen, als ich wieder einmal mit einer dieser Mails kopfschüttelnd zu ihnen laufe.
Die Pandemie belastet alle gleichermaßen
Natürlich belastet uns dieser seit einem Jahr anhaltende Ausnahmezustand sehr, aber er belastet alle. Auch uns Lehrerinnen und Lehrer. Habe ich Verständnis? Ja, klar. Aber verstehen muss ich doch nicht alles, zumindest kenne ich keine Verwaltungsvorschrift, die mich dazu verpflichtet. Und dann gibt es da noch die Beschwerden, die so bizarr sind, dass sie schon wieder etwas Erheiterndes an sich haben. „Bei uns hat sich noch nie jemand gemeldet!“, schrieb ein Elternteil. Wie? Bei Ihnen hat sich noch nie eine Lehrkraft gemeldet, obwohl dies in den Fernlernstandards eigentlich vorgesehen ist?
Eigentlich kaum zu glauben. Die Klassenlehrerin gehört zu meinen Leistungsträgerinnen, die immer mehr als bemüht um ihre Klasse sind. Ich kann das kaum fassen. Meine Nachfrage ergab, dass man auf der Gegenseite erwartet hätte, dass sich die Lehrkraft nicht nur beim Kind, sondern auch separat bei den Eltern meldet, um zu fragen, wie es Ihnen persönlich mit der Situation so geht. Aha, psychosozialer Gesprächskreis oder, wie man in der Schweiz sagt, G’spürschmi-Ründli. Also ich persönlich warte ja auch immer noch auf den Anruf aus Stuttgart aus dem KM, in dem mich eine freundliche Stimme des Ministerialdirektors (ersatzweise auch der Ministerialdirigent aus Abteilung 3) nach meiner werten Befindlichkeit fragt.
Wir setzen uns wieder einmal mehr zusammen und sichten gemeinsam die Schreiben und Handreichungen, die uns gerade erreicht haben. Irgendwie erinnert mich das folgende Gespräch eher an eine theologische Diskussion bei einer strittigen Exegese einer sehr komplexen Bibelstelle. Was freue ich mich schon auf die Nachfragen und Kommentare in der virtuellen Schulleitungsgruppe. Klar und einfach verständlich ist das sicher nicht im Sinne einer „mundgerechten Aufbereitung“. Wäre das eigentlich nicht das Mindeste, was man erwarten dürfte? Aber was hilft es. Dann gehen wir halt mal wieder an die Arbeit. Aber erst am Samstag. Jetzt gehe ich erst mal nach Hause beichten. Beichten, dass ich wieder einmal einen Samstag in der Schule verbringen werde. Die Mail mit den Plänen und dass es Änderungen geben wird, kündige ich lieber schon einmal per Threema an.
Dirk Lederle, Stv. Landesvorsitzender