„Die Lehrkräfte benennen die Problemfelder des Realschulkonzepts, wie es der Bildungsplan 2016 vorgibt, sehr genau: Große Schwierigkeiten sehen sie in den Bereichen der Orientierungsstufe, des G-Niveaus und des Hauptschulabschlusses. Und sie machen eines unmissverständlich klar: Ein ‚Weiter so‘ kann es nicht geben!“, erklären der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand und der stellvertretende Landesvorsitzende und Realschulleiter Dirk Lederle gemeinsam angesichts der Ergebnisse einer VBE-Umfrage.
Vom 15. bis 20. Mai 2022 hat der VBE Baden-Württemberg eine Umfrage durchgeführt, an der sich landesweit 721 Realschullehrerinnen und -lehrer beteiligt haben.
Problemfeld G-Niveau
Die Lehrkräfte wurden zunächst gefragt, wie das G-Niveau an der eigenen Schule unterrichtet wird. Infolge des Bildungsplans 2016 müssen Realschulen zusätzlich den Hauptschulabschluss und damit einhergehend Unterricht auf Hauptschulniveau (G-Niveau) anbieten. Bei einer Binnendifferenzierung sitzen die G-Schülerinnen und -Schüler gemeinsam mit den anderen Realschülerinnen und -Realschülern (M-Niveau) in einer Klasse. Bei einem separaten Zug werden die Niveaus in getrennten Klassen unterrichtet. Die Umfrage zeigt, dass beide Konzepte gleichverteilt zur Anwendung kommen: Rund die Hälfte der Realschulen bildet das G-Niveau binnendifferenziert ab, während die andere Hälfte es in einem separaten Zug anbietet. Fragt man hingegen, welches der Konzepte das pädagogisch bessere ist, verschiebt sich das Bild drastisch: Fast alle Realschullehrkräfte (93 Prozent) sprechen sich für den Unterricht des Hauptschulniveaus in einem separaten Zug aus. Zugleich sehen die allermeisten Lehrkräfte (89 Prozent) eine Binnendifferenzierung kritisch.
Gerhard Brand: „Damit hat die Schulpraxis ein klares Urteil gefällt: Die Lehrkräfte lehnen die Binnendifferenzierung an der Realschule aus pädagogischen Gründen ab. Durch das gleichzeitige Unterrichten auf G- und M-Niveau kann keines der Niveaus richtig bedient werden. Dadurch wird man den Kindern nicht gerecht und für die Lehrkräfte bedeutet es einen hohen Zusatzaufwand in der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Aus organisatorischen Gründen und aufgrund der erforderlichen Ressourcen können vor allem kleinere Realschulen jedoch oftmals keinen separaten Zug anbieten und sind damit zur Binnendifferenzierung gezwungen.“
Problemfeld Orientierungsstufe
Unabhängig von der Frage nach einer Binnendifferenzierung oder eines separaten G-Zugs müssen alle Realschulen zunächst eine zweijährige Orientierungsstufe anbieten. Hiernach orientieren sich in den Klassenstufen 5 und 6 der Unterricht und die Notengebung ausschließlich am Realschulniveau. Am Ende von Klasse 5 gibt es kein Sitzenbleiben und erst am Ende von Klasse 6 entscheidet sich anhand der Noten, ob die Schülerin oder der Schüler auf dem Hauptschul- oder Realschulniveau weiterlernt. Für die große Mehrheit von fast drei Viertel der Befragten (72 Prozent) hat sich dieses Konstrukt der zweijährigen Orientierungsstufe nicht bewährt. Eine ebenso große Mehrheit (73 Prozent) befürwortet eine Verkürzung der Orientierungsstufe.
Dirk Lederle: „Die Lehrkräfte betrachten das Konstrukt der zweijährigen Orientierungsstufe als pädagogisch gescheitert. Wir wissen, dass heute an der Realschule ein Viertel der Kinder mit einer Empfehlung für die Hauptschule/Werkrealschule ankommt. Hiervon schafft es gut die Hälfte, einen Realschulabschluss zu erwerben. Die andere knappe Hälfte scheitert jedoch daran, für diese Kinder ist der Besuch der Realschule mit Enttäuschung und Frustration verbunden. In der Orientierungsstufe werden sie über zwei Jahre auf einem falschen Niveau unterrichtet und geprüft. Zwei Jahre, in denen sie überwiegend negative Leistungseindrücke erhalten und reichlich Misserfolgserlebnisse sammeln. Häufig erlebt man junge Menschen, die vollständig demotiviert sind und mit der Institution Schule spätestens in Klasse 7 innerlich abgeschlossen haben. Von Bildungsgerechtigkeit kann für diese Kinder keine Rede sein.“
Problemfeld Hauptschulabschluss
Abschließend wurden die Lehrkräfte gefragt, ob die Realschulen den Hauptschulabschluss überhaupt anbieten sollten: Neun von zehn Realschullehrkräften (90 Prozent) verneinen dies.
Gerhard Brand: „Das Ergebnis könnte klarer kaum ausfallen. Damit senden die Lehrkräfte ein sehr deutliches Signal an die Landesregierung: Es muss sich was ändern! Wer Bildungsgerechtigkeit will, der muss individuelle Bildungserfolge ermöglichen. Wenn die strukturellen Bedingungen dies jedoch verhindern, ist es die Pflicht der politisch Verantwortlichen, diese Missstände zu korrigieren.“
VBE-Konzept zur Reformierung der Realschule
Das gesamte Konzept samt Schaubild finden Sie beigefügt als PDF. Zentrale Punkte sind:
- Das grundsätzliche Ziel der Realschule ist der Realschulabschluss nach Klasse 10.
- Der Hauptschulabschluss (HSA) in Klassenstufe 9 ist der Ausnahmefall an der Realschule. Der HSA wird nur an Realschulen angeboten, die keine schulische Alternative (HS/WRS oder GMS) in erreichbarer Nähe haben. Oder an Realschulen, die dies ausdrücklich wollen und in ihrem pädagogischen Profil verankert haben.
- Kürzung der Orientierungsstufe um ein Jahr und die Möglichkeit, spätestens nach Klassenstufe 5 ein G-Niveau anzubieten.
- Möchten Eltern ihr Kind mit einer HS/WRS-Empfehlung an der Realschule anmelden, ist zuvor ein besonderes Beratungsverfahren in Anspruch zu nehmen. Hinterher entscheiden die Eltern.
- Wird im Bereich der Realschule das G-Niveau in einem separaten Zug ab Klassenstufe 6 unterrichtet, erhält dieser (unabhängig vom M-Niveau) schulische Ressourcen zugewiesen. Ein G-Zug kann bereits ab acht Schülerinnen und Schülern (bisher: 16) eingerichtet werden. Zur Einrichtung eines G-Zuges können Schulen regional kooperieren.