Lederle spricht Klartext: Willkommen im Elfenbeinturm!

Klartext

Ein ganz normaler Mittwoch. Im Gegensatz zu manch anderem Familienmitglied, aus Gründen des Selbstschutzes nenne ich besser keine Namen, bin ich nicht nur berufsbedingt ein bekennender Frühaufsteher. Keine Angst, nicht von der Sorte, die morgens schon kurz nach dem Aufstehen munter pfeifend und betont gut gelaunt herumläuft. Die kann ich ja selbst nicht leiden. Ist mir viel zu laut und anstrengend. Nein, ich genieße es einfach, wenn ich morgens in Ruhe aufstehen, es mir mit einer guten Tasse Tee bequem machen und mich der Zeitungslektüre widmen kann. Um mich herum tobt nicht der alltägliche Wahnsinn, niemand will etwas von mir und das Telefon ist auch noch still. Herrlich.

Ich schlage also die Zeitung auf, blättere zur Landespolitik und da lächelt mir ein grauhaariger Brillenträger entgegen. „Moment, den kenne ich doch. Das ist doch der PISA-Schleicher!“, denke ich und schon ist mein Interesse geweckt, obwohl ich eigentlich jetzt schon weiß, was da wieder drinstehen wird: An den Schulen ist alles dunkelgrau bis schwarz, wir Lehrer blicken es einfach nicht und die Bildungsgerechtigkeit lässt immer noch zu wünschen übrig. Aber gut, vielleicht überrascht er mich ja doch noch. Ich gebe ihm eine Chance und beginne zu lesen.

Lange lässt er mir im Interview nicht Zeit, bis es mir zum ersten Mal den „Nucki raushaut“, wie man bei uns so sagt. Ehrlich gesagt bin ich schon ein bisschen fassungslos. Die Lehrkräfte in Deutschland seien noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen und würden ihren Job nicht richtig machen. Das sagt ein Mann, der sich selbst als Statistikexperte und Bildungsforscher sieht, ohne jemals auch nur ernsthaft unterrichtet zu haben. Unweigerlich fühle ich mich da an so manchen Professor aus dem Studium erinnert, der uns ganz genau erklärt hat, wie guter Unterricht so funktioniert, selbst aber in der Schulpraxis nicht viel zustande gebracht hat.

Willkommen im Elfenbeinturm!

Ein Mann also, der es sich auf die Fahne geschrieben hat, mit pauschalisierenden Bildungsmythen aufzuräumen, pflegt diese selbst gerne, und dies umso mehr, wenn es in Richtung der Lehrkräfte geht. Ob dies in seiner eigenen Biografie begründet ist (nachzuleen bei Wikipedia), wäre eine psychologisch motivierte Diskussion sicher wert. Das dürfen aber gerne andere machen. Mein Ding ist das nicht. Lehrkräfte sollen seiner Meinung nach vielmehr Coaches sein, die Eltern, Kinder und Jugendliche begleiten und nicht nur versuchen, irgendwelche Bildungspläne abzuarbeiten. Aha. Da frage ich mich allerdings schon, wer hier wohl nicht im 21. Jahrhundert ange- kommen ist oder mal besser einen dezidierten Blick in die Klassenzimmer richten sollte.

Die Konzentration auf die Kernaufgaben von Lehrkräften wäre ja schon mal ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Was ihm aber vor allem fehle, sei das Verständnis für das Überlastungsmantra der Lehrkräfte, weil wir ja im Vergleich sehr gut bezahlt seien, und da dürfte man also schon etwas mehr Einsatz erwarten. Anstatt zu jammern, sollten sich Lehrer lieber mit anderen Kollegen treffen, um bessere Unterrichtskonzepte zu entwickeln. Starker Tobak. Es mag ja sein, dass Lehrkräfte in Deutschland relativ gut bezahlt sind. Genauso wahr ist es aber, dass die Unterrichtsverpflichtung bei uns mit am höchsten ist und die Politik zumindest in einer Sache sehr konsequent war, nämlich darin, die Schulen mit gut gemeinten Ansätzen, Projekten und Aufgaben zu überfrachten, ohne dies bei der „All inclusive“-Arbeitszeit der Lehrkräfte zu berücksichtigen. Ganz zu schweigen vom bürokratischen Aufwand, den das 21. Jahrhundert so mit sich bringt. Wer nicht glaubt, dass dieser zuge- nommen hat, der hat wahrscheinlich auch noch nie probiert, einen Antrag auf Beratung und Unterstützung im Vorfeld zum Einstieg in die sonderpädagogische Fallarbeit auszufüllen. Und genau da überrascht er mich dann doch noch. Genau hiervon will er uns Lehrkräfte nämlich zugunsten der Unterrichtsentwicklung entlasten und sogar noch unsere Arbeitszeit anders organisieren. Wie das aussehen soll, erklärt er zwar nicht, aber recht hat er. Die Konzentration auf die Kernaufgaben von Lehrkräften wäre ja schon mal ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. „Falls er hierzu Ideen braucht, kann er sich ja gerne mal bei uns melden“, denke ich so bei mir. Ich jedenfalls könnte ihm da gerne was in sein Notizbuch diktieren.

Den zweiten Sympathiepunkt bekommt er von mir, als er sich selbst dahingehend als naiv bezeichnet, als er davon ausging, Schule könne so etwas wie der Reparaturbetrieb der Gesellschaft sein, der einfach alle Defizite der Elternhäuser ausgleichen kann. Höre ich da etwa Selbstkritik? Diesen Begriff habe ich zumindest bislang nicht kongruent mit seinem Namen gebracht. Ich bin irritiert und dann: Bäm! Beide Sympathiepunkte leichtfertig mit dem Ende des Interviews verspielt. Gute Lehrkräfte seien echte Bezugspersonen – echt jetzt? Das wäre mir ja total neu! Aber nicht nur für die Kids, sondern auch und vor allem zur Beratung der Eltern in Erziehungsfragen, die dann auch zu Hause besucht würden. Also nach dem Unterricht alle rein in den VW-Bus des Kollegen Maier und der Kollegin Müller (Vorsicht, Klischee!) und ausschwärmen ins Einzugsgebiet der Schule zur Erziehungsberatung in Bezug auf den Medienkonsum der Kids vor Ort. Mir schießen da noch ganz andere seltsame Bilder in den Kopf … Nicht, dass ich das nicht für sinnvoll halten würde, zumindest in einigen Fällen, aber da hätte ich schon einige ganz praktische Fragen an ihn: Wann genau soll eine Lehrkraft das eigentlich machen? Wer macht dann Unterrichtsentwicklung oder ganz profan die Unterrichtsvorbereitung, wenn die Lehrkräfte als systemische Familienhelfer unterwegs sind? Wer kommt für die Fahrtkosten auf? Was passiert, wenn Eltern das nicht wollen?

Schwupp sind wir halt doch wieder im Elfenbeinturm der Bildungsforscher

Und schwupp sind wir halt doch wieder im Elfenbeinturm der Bildungsforscher, die von einer Realität ausgehen, die es vielleicht in irgendeinem Paralleluniversum geben mag, die aber faktisch leider viel zu selten existiert. Na ja, zumindest bin ich jetzt richtig wach. Ich gehe mal sanft den Rest der Familie wecken. Und den Blutdruck mei- ner Frau bring ich auch ziemlich schnell in Wallung. Ganz ohne Kaffee. Ich lege ihr einfach mal den Artikel hin.

Dirk Lederle, Stv. Landesvorsitzender