Zerreißprobe Inklusion

Inklusion: Die Situation an den Schulen spitzt sich weiter zu. Weitere inklusive Settings werden genehmigt, obwohl die bestehenden nicht ausreichend mit Ressourcen und entsprechend ausgebildeten Lehrkräften versorgt sind. Gleichzeitig hört man Klagen von Eltern, deren Wunsch es ist, ihr Kind am SBBZ beschulen zu lassen und ihnen dies abgeraten wird. Die Versorgung mit Lehrkräften wird zunehmend schlechter.

„Unsere Einstellung der Zukunft gegenüber muss sein: Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht.“ Karl Raimund Popper (1902-1994) brit. Philosoph u. Wissenschaftslogiker

Der VBE fordert schon seit vielen Jahren, dass inklusive Settings nur dann eingerichtet werden, wenn die notwendigen Rahmenbedingungen stimmen.

Wo bleibt die Fürsorgepflicht für die betroffenen Kinder, behinderte und nicht-behinderte, und deren Lehrkräfte, die der allgemeinen Schule und die Sonderpädagogen?

  • Wem nützt es, wenn Lehrkräfte permanent überfordert werden?
  • Was tut man den Schülerinnen und Schülern an, die in inklusiven Settings nicht entsprechend ihres Förderanspruches unterrichtet werden (können) und den Regelschülern, denen die Aufmerksamkeit der Lehrkraft häufig entzogen wird?
VBE beharrt ebenfalls seit langem, dass die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte den geänderten Voraussetzungen angepasst werden müssen. 

Anfügen möchte ich die Forderungen des VBE,

  • dass die Evaluation, der Rückläufe von Kindern, die in inklusiven Settings waren und zurück in die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) gehen, bekannt gegeben wird. (Mindestens für die letzten 4 Jahre)
  • dass die zusätzliche unterrichtliche Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen

– im differenzierten Unterricht,

– durch die zeitliche Belastung für die notwendigen Elterngespräche,

– durch die notwendigen Teambesprechungen,

– durch die Förderplanerstellungen,

– durch Absprachen mit außerschulischen Partnern

– durch die damit verbundene Dokumentation

in einem reduzierten Unterrichtsdeputat Berücksichtigung finden.

Alles zum Nulltarif? Das geht nicht! Im Moment ist die aktuelle schulische Situation für viele Kolleginnen und Kollegen fast schon eine Einbahnstraße ins Burnout. Sie fühlen sich wie in einem Hamsterrad. Die notwendige Motivation und Kreativität leidet darunter sehr. Wollen wir das wirklich? Wer übernimmt die Verantwortung dafür? Die Qualität der Förderung – der sonderpädagogischen, aber auch der allgemeinen Förderung – muss gesichert sein.

Inklusive Förderung benötigt die entsprechenden Rahmenbedingungen. Im Moment wollen 25% der Eltern die inklusive Beschulung, 75% die Beschulung am SBBZ.(GEA Reutlingen am 27.07.17 Interview mit Kultusministerin Eisenmann) Dementsprechend müssen die SBBZ mit den notwendigen entsprechend qualifizierten Lehrkräften versorgt werden. Die Notversorgung mit nicht pädagogisch ausgebildetem Personal, wie es teilweise im Moment praktiziert wird, betreut vielleicht, aber beschult nicht, untergräbt also die Qualität der Förderung und schadet den Kindern.

Das Elternwahlrecht, das im Schulgesetz steht, muss den Eltern garantiert werden.

Der VBE schlägt vor, solange keine neuen inklusiven Settings einzurichten, bis die bestehenden Settings über die notwendigen Rahmenbedingungen – und damit auch qualifiziertes Personal in ausreichender Ausstattung – verfügen. Den Eltern, die ihr Kind inklusiv beschulen lassen möchten, muss nichtsdestotrotz die Möglichkeit geboten werden, dass ihr Kind an einer inklusiven Schule beschult wird. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass sie objektiv und umfassend über die verschiedenen schulischen Möglichkeiten informiert werden. Leider ist dies – laut Aussagen von betroffenen Lehrkräften und Eltern – oft nicht der Fall.

Es darf nicht nach Inklusionsquoten vorgegangen werden. Wichtig ist und bleibt die Einzelfallentscheidung, an welchem Förderort dem betroffenen Kind angemessene Bildungsmöglichkeiten geboten werden können. Es geht um seine zukünftige gesellschaftliche Teilhabe!

Dies sieht die UN-Konvention ausdrücklich vor: Es muss auch Sonderwege geben, um die bestmögliche Teilhabe erreichen zu können. Die UN-Konvention macht keinerlei Aussagen zur schulischen Organisation. Wer dies behauptet, sagt vorsätzlich die Unwahrheit. (Der Hinweis sei erlaubt: Verbindlich ist nur der englische Originaltext der UN-Konvention. Die deutsche Übersetzung ist dies nicht, wird aber dem Originaltext immer wieder vorgezogen, da sie Übersetzungsfehler enthält.)

Inklusion braucht Zeit

Inklusion braucht Zeit, entsprechende Rahmenbedingungen und darf nicht zur Zwangsinklusion missbraucht werden. Inklusion ist nicht nur eine schulische, sondern eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe. Das Ziel muss sein, bestmögliche Aktivität und Teilhabe in der Gesellschaft zu gewährleisten. Aufgabe und Verantwortung ist, den Schülern – mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot – die Förderung zukommen zu lassen, die ihnen die Aktivität und Teilhabe im Erwachsenenleben ermöglicht!

Leider muss man inzwischen den Eindruck gewinnen, dass durch inklusive Beschulung die der gesamten Gesellschaft auferlegte Verantwortung, Inklusion zu realisieren, auf Kosten der Lehrkräfte und damit auch aller  Schüler, auf die Schule abgeschoben werden soll. Schade! Dadurch werden Bildungschancen der betroffenen Kinder bewusst vertan.

Ursula Mittag, Landesreferatsleiterin Sonderschulen