Anatomie eines Untergangs

Anatomie eines Untergangs: Am 14.4.1912 kollidierte die Titanic unerwartet mit einem Eisberg und ging unter. Eine Katastrophe, die fast 1500 Menschen das Leben kostete. In dieser Nacht fand die Hybris von der Unsinkbarkeit ein jähes Ende. Wenn ich mich im Lehrerzimmer umschaue, die Gespräche meiner Kolleginnen und Kollegen verfolge, täglich erlebe, wie die Schulleitungen nur noch den Mangel verwalten, um den „Dampfer“ wenigstens über Wasser zu halten, vermisse ich nur noch die Schiffskapelle, die den Sound zur Untergangsstimmung liefert. Exitstrategien werden ausgetauscht.

Inklusion, VKL, Personalmangel, zunehmende Verhaltensauffälligkeiten, Evaluationen und Statistiken, fachfremder Unterricht, Notbetreuung – defacto ein System im Dauernotbetrieb und dies nicht erst durch die Pandemie. Vielen stellt sich mittlerweile die Frage, wie mit der eigenen Erschöpfung umgehen, ohne davon krank zu werden.

In den Anträgen der diesjährigen Vertreterversammlung spiegelte sich die desolate Situation wider. Entlastung, um endlich wieder das tun zu können, wofür wir einmal ausgebildet wurden. Wir sind Profis im Unterrichten, eben keine professionellen Notbetreuer. Seit Jahren fordern wir die Konzentration auf das „Kerngeschäft“, etwas von dem mittlerweile Junglehrerinnen und -lehrer gar nicht mehr wissen, was das überhaupt sein könnte.

Entlastung wird benötigt – jetzt!

Wir brauchen endlich spürbare Entlastung auf allen Ebenen. Jedem ist dabei klar, dass neues Personal nicht „gebacken“ werden kann. Die vorhandenen Lehrkräfte brauchen Arbeitsbedingungen, unter denen sie ihr Wirkungspotential entfalten können und nicht ihren Idealismus verheizen müssen. Diese Bedingungen sind längst nicht mehr gegeben.

Worauf warten wir also? Was macht die Politik bisher? Sie schaut sich an, sie hört zu, sie hat auf dem Schirm. Grundlegende Entscheidungen sind bisher Mangelware und die Zeit drängt, wenn Veränderungen bereits zum neuen Schuljahr umgesetzt werden sollen. Mit dem RS-Konzept oder dem Konzept zu einer neuen Berufsorientierung in der Sekundarstufe I, liegen beispielsweise zwei konkrete Lösungsvorschläge auf dem Tisch. Eine Entscheidung ist längst überfällig.

Rahmenbedingungen verbessern – sofort!

Es ist die Aufgabe der Politik, den Rahmen so zu setzen, dass wir darin unsere Aufgabe zeitgemäß erfüllen können. Dazu benötigen wir Unterstützung, wie multiprofessionelle Teams oder etwa Ausbildungsberater. Es kann nicht mehr sein, dass dies alles nur standortabhängig ist und den Anstrengungen der Schulen geschuldet bleibt.  Dass Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer zu Tausenden nicht nur in unserem Bundesland fehlen, das sind keine Überraschungen, das ist das lange ignorierte Ergebnis einer jahrzehntelangen verfehlten Personalpolitik. Wenn entsprechende Entscheidungen jetzt nicht getroffen werden, verlieren wir nicht nur Zeit, wir verlieren nicht nur die letzten Idealisten, wir verlieren das, was Baden-Württemberg ausmacht, einen Teil „unserer DNA“.

„Willkommen in The Länd.“ – Selbst lachend, geht es kaum mehr über die Lippen. Der Kapitän der Titanic, John Edward Smith, kurz vor dem Ruhestand, übermittelte im Morgengrauen an Besatzung und Passagiere: „Jetzt jeder für sich.“ In den Kollegien fühlt man sich so im Stich gelassen, dass viele kaum noch an eine wirkliche Veränderung glauben.

Kapitän Smith hielt sich an den Ehrenkodex und ging mit seinem Schiff unter. Eine wenig verlockende Option, liebe Kolleginnen und Kollegen. Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund. Wie rau die Zeiten auch sein mögen: Wir bleiben für Sie dran. Versprochen.

Markus Kempke, Landesreferatsleiter Realschule im VBE