Kennen Sie folgende Situation? Sie sitzen bei einer Familienfeier am Esstisch zusammen und es gibt ein heranwachsendes Familienmitglied, männlich, schlank, das Unmengen vom guten Essen in sich aufnimmt. Irgendwann, es ist nur eine Frage der Zeit, stellt jemand von der Verwandtschaft die unvermeidliche Frage: „Sag mal, wo isst du das denn alles hin?“ Was jetzt in meiner Familie stattfand und sicher in den reichhaltigen Schatz der Familienanekdoten aufgenommen wird, ist wie folgt: Ein Neffe gab auf die Frage eine wissenschaftlich fundierte Abfolge der Nahrungsverwertung im Körper, lückenlos von Kauleistung über Speiseröhre, Magen, Bauchspeicheldrüse und Galle, gefolgt von den Aufgaben der unterschiedlichen Darmabschnitte, Vitamine, Ballaststoffe etc. inklusive. Sie fragen sich nun, was ich Ihnen hier sagen will. Tja, der kleine unaufgeregte Vortrag des Neffen wäre nichts Besonderes, wenn er Medizin studieren oder wenigstens kurz vor dem Abitur stehen würde, aber er ist Drittklässler. Er wird bald neun.
Auf meine entgeisterte Frage, woher er das denn weiß, meinte er völlig ungerührt: „Projektwoche.“ Meine Schwägerin zuckte die Schultern, mein Schwager knurrte, dass Lesen und Schreiben hingegen eher daheim geübt werden müssten. Mein Neffe findet allerdings Projektwochen besser und sein mit Interesse und Freude erworbenes medizinisches Wissen kann ihm niemand mehr nehmen. Lesen lernen und üben kann ungleich zäher sein als ein Projekt, aber man kann das eine ja tun und muss das andere nicht lassen.
Heute musste ich an die Familienfeier denken, als ich bei der Heimfahrt von einer Personalratssitzung im Autoradio den Bericht über die neueste IGLU-Studie hörte, die besagt, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler im Ranking in der Kompetenz Lesen noch weiter nach unten gerutscht sind. Die Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger in Berlin war wieder reichlich empört und nannte die Ergebnisse „alarmierend“. Gut lesen zu können, sei eine wichtige Grundkompetenz, sagt sie. Die IGLU-Studie zeige, dass eine „bildungspolitische Trendwende“ nötig sei. Bei Empörungsäußerungen von Politikern zu offensichtlichen Problemen in der Bildung höre ich zugegebenermaßen oft nicht mehr so ganz hin. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland beim Lesen also unter dem Durchschnitt in den EU-und OECD-Staaten. Ein Viertel der Kinder erreicht nicht mal den Mindeststandard beim Lesen. Besondere Probleme bereitet es, einen Text zu verstehen und die grundlegenden Informationen herauszufiltern.
Natürlich wurde bei der Interpretation der IGLU-Studie die Heterogenität beim Sprachstand der Kinder ins Feld geführt. Bildungsgerechtigkeit, Herkunft und der Stand der Digitalisierung kamen als mögliche Ursachen auch vor. Allerdings spricht man auch von einem 20-Jahre-Trend, denn schlechtes Lesen war schon 2006 Thema, und bereits als 2019 festgestellt wurde, dass jeder fünfte 15 Jahre alte Schüler nicht sinnverstehend lesen konnte, wurde sich gebührend empört. Passiert ist wenig.
Interessant wurde es, als in dem Bericht erläutert wurde, wie viel Zeit andere Länder im Vergleich zu Deutschland für das Lesen einräumen. Während Deutschland in der Primarstufe 141 Stunden (wie kommt man auf die eine Stunde?) für die Lesekompetenz bereithält, sind es bei den OECD-Ländern 205 Stunden. 64 Stunden mehr lesen üben, das ist ein Wort. (Quelle: Deutsches Schulportal der Robert Bosch Stiftung.) Wofür werden bei uns die 64 Stunden benötigt? Sicher nicht nur für „Darm-Projekte“, aber sicher für viele andere Dinge, wie etwa Gewaltprävention, Konfliktbewältigung, Drogenprävention, Gesundheitsförderung, Medienbildung, Verbraucherbildung, Verkehrserziehung, Berufsorientierung, aber auch Fußballturniere, Lerngänge, Geld einsammeln, Landheim vorbereiten, Schulfest vorbereiten, Weihnachtsfeier und Streitschlichtung etc.
All das ist Schule. All das muss Schule leisten. Im Gegensatz zu Schulen in anderen Ländern gibt es z. B. keine Schulkrankenschwester, die kleine Wunden direkt versorgt oder ein krankes Kind in Obhut nimmt, bis Eltern erreicht werden können. Für Probleme seelischer Natur gibt es keine ausreichende Versorgung mit Sozialarbeitern. Für schulische Defizite gibt es keine ausreichenden pädagogischen Assistentenzen. Es heißt immer, wir brauchten „Entlastung von bürokratischen Aufgaben“, aber das ist zu allgemein gefasst, denn für absolut alles sind Lehrkräfte zuständig. In meiner letzten Klasse hatte ich neun amtlich betreute Schüler, für die regelmäßige Hilfeplangespräche notwendig waren. Als Klassenlehrerin war ich für den Part der Schule regelmäßig dabei (wer sonst?), manchmal an jedem Nachmittag in einer Woche zusätzlich zu Unterricht, Vor- und Nachbereitung, Korrekturen, Konferenzen und Elterngesprächen. Die 41 Stunden Dienstverpflichtung als Volldeputatlerin wurden regelmäßig überschritten.
In vielen regulären Unterrichtsstunden wie Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften oder Fremdsprachen müssen Lehrkräfte Kompetenzen und Kenntnisse vermitteln, die mit dem eigentlichen Kerngeschäft und den Schulfächern gar nichts zu tun haben. Die Dinge werden in die Stunden eines x-beliebigen Fachunterrichts gelegt, da es Klassenlehrerstunden, Klassen-AGs oder Verfügungsstunden nicht gibt.
Ein Beispiel aus dem Englischunterricht: Wenn 11-Jährige von einem Zifferblatt generell nicht die Zeit ablesen können, können sie das auch nicht auf Englisch lernen, wie in einer Lektion vorgesehen. Ein Teil der Klasse braucht also zuerst einmal „individuelle Förderung im Uhrenlesen“, während die anderen im Stoff weitermachen können. Die Lehrkraft macht den Spagat in einer 30er-Klasse, so gut sie kann, und die Schere wird sich hier und auch an anderen Stellen weiter öffnen. Es gäbe noch viele Beispiele dieser Art, die auch in anderen Fächern die Unterschiede manifestieren, bevor eine Lehrkraft überhaupt den Klassenraum betreten hat. Chancengleichheit könnte höchstens während der Schulzeit erschaf- fen werden.
Schuhe binden, Stifte, Scheren oder Pinsel halten, Feinmotorik, Grobmotorik werden in den Bildungsplänen als vorhanden vorausgesetzt, damit Ziele erreichbar bleiben. Aber es kann nichts mehr vorausgesetzt werden und damit meine ich nicht nur ei- nen allgemeinen Sprachstandard oder gesellschaftlich-soziale Normen. Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung wurden schleichend immer mehr Bereiche in die Schulen verlagert, die in früheren Zeiten außerhalb, d. h. in den Familien,„erledigt“ wurden. Da muss man gar nicht mit abstrakten Kompetenzbegriffen hantieren. Wenn man sich vor einigen Schulen das allmorgendliche Verkehrschaos aufgrund der Elterntaxi-Problematik ansieht, wird klar, dass auch die Schulwege von Kindern nicht mehr allein bewältigt werden, was eigentlich altersgemäß möglich sein sollte. Fahrradfahren, schwimmen?
Das konnte man mal, bevor man in die Schule kam, oder? Bildung und Bildungserfolge sind komplex, aber manchmal auch denkbar einfach. Dazu kommt in der Schule der „menschliche Faktor“, ich möchte es mal so nennen. Es wird über Tiefenstruktur des Unterrichts, individuelle Förderung, Differenzierung, Digitalisierung und dergleichen mehr geforscht, geplant und gerungen, aber was bringt das alles, wenn die Jungs im Klassenzimmer der 7 b in der 5-Minutenpause mit Janines Kakaopäckchen Fußball gespielt haben? Da schrumpft die Tiefen- struktur der Unterrichtseinheit auf 7 Minuten, die nicht damit verbracht werden mussten, einen Lappen und Eimer zu organisieren, Tisch und Boden wischen zu lassen, aus unterschiedlichen Gründen aufgebrachte Kids zu beruhigen, einen Termin für ein ernstes Wörtchen mit den Tätern zu verabreden und den Humor nicht zu verlieren.
Wie oft kommt man in eine Klasse, in der sich gerade irgendetwas ereignet hat, zugegebenermaßen nicht unbedingt das geplatzte Kakaopäckchen, aber einem Kind ist schlecht, es gab Ärger, jemand weint. Junge Menschen halt. Was wäre das für eine Schule, in der dafür kein Platz ist, in der die Lehrkraft entscheiden muss, ob sie sich darum kümmert oder ob sie den Stoff durchzieht, ungeachtet der Notstände, denn „übermorgen ist Klassenarbeit“? In einer idealen Welt gäbe es Stunden, die man dann beispielsweise für den ausgefallenen Unterrichtsinhalt nutzen könnte. Mehr Tablets und generell Digitalisierung, das scheinbare Allheilmittel für alles, sind hier nicht unbedingt die Lösung.
Stundenkontingenttafel und Klassenteiler
Unlängst war ich gezwungen, mein Arbeitszimmer neu zu organisieren und vorab zuerst einmal gründlich auszumisten. Meine Aufräumaktion wurde eine Reise durch vier Bildungspläne bzw. durch die Entwicklung der Didaktik und Pädagogik einiger Dekaden. Schon der erste Ordner aus meiner Anfangszeit als Lehrerin, mit Arbeitsblättern, Tests und Klassenarbeiten inklusive Notenverteilung der Klasse 6, machte mich stutzig. Waren da Zettel in den falschen Ordner gerutscht? Die Aufgaben auf den Arbeitsblättern und Tests zu allen Fertigkeiten (für jüngere Kolleginnen und Kollegen: damals sollten Schüler/-innen noch Fertigkeiten beherrschen, nicht Kompetenzen haben) hatten ein deutlich höheres Niveau als heute. Auch im Fach Englisch in Klasse 9 ergab sich das gleiche Bild. Mein Fazit nach kürzester Zeit der weiteren Sichtung meiner Ordner aus früheren Jahren: Wenn ich diese Klassenarbeiten im Fach Englisch auf diesem Niveau heute schreiben lassen würde, müsste mein Schulleiter Wartesäle für Eltern auf Beschwerdetour einrichten, inklusive Sicherheitsdienst.
Aber jetzt mal Spaß beiseite: Warum ist das so? Natürlich sind heute einige Kinder an Schularten, die für sie schwer zu bewältigen sind. Natürlich haben Kinder heute Verhaltensprobleme, die sie vor dreißig Jahren vielleicht (?) nicht hatten. Aber klar ist: Die Mehrzahl der Kinder in unseren Klassen sind nicht weniger intelligent als früher. Nun, in der Sekundarstufe I gibt es beispielsweise für das Fach Englisch zunächst einmal eine Erklärung. Als ich das Referendariat begann, wurde Englisch in der 5. Klasse fünf Stunden pro Woche unterrich- tet, heute vier Stunden. In den folgenden fünf Schuljahren gab es damals jeweils vier Stunden Englisch, seit dem Jahr 2004 in fünf Jahren vier Stunden, in einem Jahr nur drei Stunden.
Gehen wir mal nur von 36 Wochen pro Schuljahr aus, fehlen der Realschülerin, dem Realschüler in der Schullaufbahn bis zur Mittleren Reife im Vergleich zu früher in etwa 72 Unterrichtseinheiten im Fach Englisch, im Vergleich zur Zeit vor 2004 immerhin 36. Die Prüfung zur Mittleren Reife ist übrigens zwar in Teilen anders geworden, aber im Niveau in etwa gleich geblieben. Warum hat das Fach Englisch die Unterrichtseinheiten auf dem immerwährenden Weg zur proklamierten besseren Bildung verloren? Die Begründungen waren unter- schiedlich.
Englisch sollte bereits in der Grundschule unterrichtet werden. Stunden sind in die Naturwissenschaften gewandert oder sollten das zumindest, ITG (für Jüngere: informationstechnische Grundkenntnis- se) mussten bedient und die Stundentafel sollte nicht „aufgebläht“ werden. Das „Englisch-in-der-Grundschule Experiment“ lief nicht ganz so gut wie erwartet und inzwischen nur noch ab Klasse 3, aber die Stunden sind für die Sekundarstufe verloren. Aber – und jetzt kommen eigentlich alle Fächer ins Spiel – der Stundenverlust liegt nicht nur an diesen strukturellen Veränderungen wie etwa verminderten Stunden- kontingenttafeln. Das ist nur eine mögliche Erklärung.
Lesen ist ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit. Astrid Lindgren
Schule hat, wie bereits erwähnt, über die Jahre zusätzliche Aufgaben bekommen, die mit Fachunterricht eigentlich gar nichts mehr zu tun haben, aber Unterricht, unser Kerngeschäft, verhindern. Lehrkräfte, die an einer Schulart mit standardisierten Abschlüssen unterrichten, müssen sich aber auch daran messen lassen, wie ihre Klassen jeweils in den Prüfungen abschneiden. Wohl dem, der seine Vertretungsstunden möglichst in seinen Prüfungsklassen hat. Schüler: „Aber eigentlich hätten wir jetzt Chemie.“ Lehrkraft: „In English, please.“ Oder es zeigen eben Lernstandserhebungen aller Art, dass die Lernerfolge verbesserungswürdig sind. Übrigens liegt der Klassenteiler in der Realschule noch immer bei 30 Schülerinnen und Schülern. Gäbe es nur Klassengespräche und Frontalunterricht, läge die mögliche Redezeit bei etwa 6 Minuten pro Schüler/-in. Pro Woche! Da hat die Lehrkraft aber noch gar nichts gesagt. Es gibt vielleicht Fächer, die hier von der Digitalisierung profitieren können und völlig neue Wege der Wissensvermittlung gehen.
Natürlich gibt es auch genug Methoden und Sozialformen, um Klassen zum Nutzen einer Fremdsprache zu animieren und die Redezeit deutlich zu erhöhen, aber die Fehlerkorrektur durch die Lehrkraft leidet darunter. Eine Fremdsprache und Sprachen generell, auch Deutsch, sind leider ziemlich von der Lehrkraft abhängig, denn nur sie hört zum Beispiel Fehler in der Aussprache. Und zwar möglichst bei allen 30 Schülerinnen und Schülern. Die Digitalisierung und individuelles Lernen helfen beispielsweise bei Wortschatz und Grammatikübungen. Würde der hohe Klassenteiler gesenkt, wäre viel gewonnen. Der Bildungsplan geht von 38 Wochen Unterricht brutto aus.
Wir Lehrkräfte aber wissen, dass das eine Utopie ist. Wenn wir weiter die Aufgaben erfüllen sollen, die uns die Gesellschaft aufbürdet, wenn wir weiter neben Deutsch, Mathe, Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und Fremdsprachen für alles Mögliche zuständig sind, wenn weiter niemand an die Schulen kommt, der uns die Dinge, die nicht unser Kerngeschäft sind, abnimmt, dann müssen Abstriche im Lernstoff gemacht werden. Und nicht nur, damit Lernstandserhebungen wieder gefälliger werden und sich Bildungspolitiker nicht mehr echauffieren müssen.
Wir müssen uns auf einen Kanon verständigen, der sinnvoll und unerlässlich ist, um eine ausreichende Bildung zu gewährleisten, die zu unserem Land passt. Wir müssen eventuell Bildungspläne entrümpeln und neu denken. Was müssen Kinder können, was müssen Schülerinnen und Schüler können, was ist uns als Gesellschaft wichtig? Was muss Schule leisten? Stellt sie lediglich als „Zulieferer“ für Industrie und Dienstleister angehende Arbeitskräfte bereit? Schafft Schule mündige Bürgerinnen und Bürger, die selbstständig denken und handeln kön- nen? Stattet sie junge Menschen mit umfas- sender Allgemeinbildung aus und, wenn ja, was ist Allgemeinbildung heute?
Eines ist klar, da brauchte es keine IGLU- Studie und keine Politikerappelle: Lesen muss man können, denn nicht alles wird sich mit Podcasts oder Erklärfilmchen aus dem Internet bewältigen lassen. Man liest nach wie vor im Vorbeigehen zur Informationsentnahme. Man sollte laut und deutlich lesen können, um Texte vorzutragen. Man benötigt Kompetenzen im „vertieften Lesen“, um falsche Neuigkeiten, auch im Internet, zu entlarven, und wenn man lesen kann, könnte man es ab und zu einfach mal zum Spaß tun, denn wer gern liest, ob vom Buch oder Tablet, ob einen Comic, ein Fußballmagazin oder einen Roman mit 800 Seiten, kann sich niemals langweilen.
Einen schönen Sommer und erholsame Ferien wünscht Ihnen
Andrea Friedrich, Vorsitzende Landesbezirk Nordbaden, Mitglied des Landesvorstands