Digitales Lernen: In der Corona-Krise fühlen sich viele Schulen gemüßigt, auf Anfrage der Medien über das digitale Lernen zu schwärmen. Als ob das Land in irgendeiner Weise darauf vorbereitet wäre: Veraltete Schulgebäude, unzureichende Software, zu schwache Anbindungsleitungen, zu wenige ausgebildete Lehrkräfte, insgesamt: viel zu geringe Investitionen in die Schulen von heute für die Arbeitswelt von morgen. Das, was jetzt -auf die Schnelle- nach außen dargestellt wird sind oftmals nur Beispiele wie man aus der Not eine Tugend macht. Da haben es die Gemeinschaftsschulen, welche das Konzept dieser Schulart verinnerlicht haben, schon etwas einfacher. Das digitale Lernen ist ein wesentlicher Teil ihres Programms.
Die Alemannenschule Wutöschingen (Kreis Waldshut) nutzte das virtuelle Klassenzimmer schon lange bevor Corona dieses eingefordert hat. Die Schule setzt auf den differenzierten und pragmatischen Einsatz von digitalen Medien beim individualisierten Lernen. Mit diesem Konzept gewann sie den „Deutschen Schulpreis“. Wir erfahren von Schulleiter Stefan Ruppaner , was „Schule neu denken“ heißt.
Wie funktioniert digitales Lernen heutzutage am besten?
Digitales Lernen darf nicht isoliert gesehen werden. Das schulische Lernen insgesamt bedarf dringend einer Neuausrichtung. Mit Reformen ist nichts mehr zu erreichen. Die Möglichkeiten und Perspektiven, die dabei die Digitalisierung bietet, helfen allerdings ungemein. An der Alemannenschule Wutöschingen (ASW) findet man keine Bücher, aber auch keine Klassen, Klassenzimmer oder Unterrichtsstunden mehr. Das zeigt, dass die notwendigen Veränderungen weitaus grundlegender sein müssen. Mit dem Austausch von Büchern durch Tablets ist nichts erreicht. An der ASW haben wir uns vor 7 Jahren für eine one-to-one-Lösung mit iPads entschieden. Alle Lernenden haben die Möglichkeit für 12 € monatlich ein solches Gerät zu mieten. Dabei sind Versicherung und alle kostenpflichtigen Apps inklusive. Bedürftige unterstützt der Schulförderverein. Herz und Lunge des digitalen Lernens sind allerdings einerseits die Digitale Lernplattform DiLer und andererseits die Materialien zum Selbstverantwortlichen Lernen. Auf DiLer laufen alle Informationen für Kinder, Eltern und Kolleg*innen zusammen. Dort gibt es z.B. Schultagebuch, Talkie, Kalender und alle Lernmaterialen. Auch die Zeugnisse werden dort geschrieben. Diese Infrastruktur ist beim Digitalen Lernen mit Tablets unerlässlich. Die Lernmaterialien zum Selbstverantwortlichen Lernen wurden über Jahre in einem Materialnetzwerk erarbeitet, an dem über 50 Schulen mitgearbeitet haben. Inzwischen hat sich daraus die gemeinnützige Genossenschaft Materialnetzwerk eG entwickelt. Das Ziel ist, allen Lernenden hochwertige Lernmaterialien für die neuen Lernformen zur Verfügung zu stellen. Erklärfilme, Apps und digitale Übungen sind ein wichtiger Teil dieser Materialien.
Was hat sich beim Lehren und Lernen seit Einführung des ASW-Konzeptes verändert?
Die augenfälligste Veränderung ist eindeutig die geänderte Raumstruktur. Statt Klassenzimmern unterscheidet die ASW sechs unterschiedliche Lernräume: Lernatelier, Marktplatz, Inputräume, Räume für den Clubunterricht, Lebensräume und Digitaler Lernraum. In den Lernateliers herrscht absolute Ruhe. Es ist der Bereich für konzentriertes Arbeiten in engem Kontakt mit dem Lerncoach. Jeder Lernpartner hat dort seinen personalisierten Arbeitsplatz. Das kooperative Arbeiten in Teams, Gruppen- oder Partnerarbeit findet auf dem Marktplatz statt. Dort kann im Stehen, Sitzen und Liegen gelernt werden. Für die konzentrierte, kompakte Wissensvermittlung stehen die Inputräume zur Verfügung. Der Clubunterricht der 3-stündig in den Nebenfächern stattfindet, sucht sich Unterrichtsräume im Dorf und in der Region. Beispiele dafür sind Bauernhöfe, der Wald, das Flüsschen Wutach, Firmen, Räumlichkeiten von Kirchen und Vereinen und der Sitzungssaal des Rathauses. Für die Gestaltung der Mittagsfreizeit sind Lebensräume zum Genießen, Ausruhen und für Sport und Bewegung unabdingbar. Zentraler Lernraum ist der Digitale Lernraum, der durch die Nutzung den Lernplattform
DiLer und die one-to-one-Lösung mit iPads das Rückgrat des individualisierten Lernens darstellt. Durch die Corona-Zeit ist klar geworden, dass es in Zukunft noch einen siebten wichtigen Lernbereich geben wird. Das Home-Office funktioniert so gut, dass wir in der Zeit nach Corona das Lernen Zuhause als festen Bestandteil des Lernens in das bestehende Konzept aufnehmen wollen. Es gibt auch Kinder die Daheim besser lernen als in der Schule. Dieser Umstand sollte allen zu denken geben.
Welche Arbeitsplätze und Räumlichkeiten werden den Schüler*innen fürs mobile Lernen angeboten?
Alle Lernräume werden von den Lernenden genutzt. Dabei ist der Anteil der Nutzung individuell sehr unterschiedlich. Wir haben Kinder mit Autismus, die fast ausschließlich im Lernatelier lernen. Andere nehmen in einzelnen Fächern an keinem einzigen Input teil. Andere lieben es die Lernbegleiter in diesen Inputs zu erleben. Die vielfältigen außerschulischen Lernorte kommen bei vielen Lernpartner*innen sehr gut an. Der digitale Lernraum war im Allgemeinen stark, jedoch ebenfalls sehr unterschiedlich, intensiv genutzt. Genau dies ist ja das Geheimnis der Individualisierung.
Die Schule verzichtet auf klassische Klassenstrukturen. Welche Rolle nehmen die Lehrkräfte an Ihrer Gemeinschaftsschule ein?
Die Lehrkräfte der ASW verstehen sich nicht als Lehrer sondern als Lernbegleiter. Ein/e Lernbegleiter*in unterrichtet keine 28 sondern nur 12 Deputatsstunden. Die restliche Zeit stehen sie den Lernpartner*innen dem restlichen Kollegium zur Kooperation zur Verfügung. Eine Lehrkraft betreut ca.14 Lernpartner*innen auf ihrem Lernweg und pflegt zu ihnen eine persönliche Beziehung. An der ASW wird von vielen Lerncoaches nicht im Deputatsstunden- sondern im Zeitstundenmodell gearbeitet. Dabei sind die Kolleg*innen einfach 35 Zeitstunden an der Schule anwesend. In dieser Zeit wird unterrichtet, vorbereitet, kooperiert und betreut. Ein Arbeitsplatz inclusive iPad und MacBook wird vom Schulträger zur Verfügung gestellt.
Bitte um einen Tipp für Schulleitungen: Wie gelingt ein digitales Lernkonzept, was sind die entscheidenden Bausteine?
Der entscheidende Baustein ist die Haltung. Wenn ich das Schulbuch durch ein iPad ersetzte, ist nichts gewonnen. Nur wenn sich die Einteilung von Raum und Zeit und die Einstellungen ändern, kann ein digitales Werkzeug erfolgreich eingesetzt werden. Im materiellen Bereich sind dann der Einsatz von Digitaler Lernplattform und Tablets unabdingbar. Sehr wichtig sind außerdem digitale Lernmaterialien, die den Anspruch an das selbstverantwortliche Lernen erfüllen. Diese werden allerdings in naher Zukunft durch die gemeinnützige Genossenschaft Materialnetzwerk eG für alle kostenlos zur Verfügung gestellt. Diese Hürde entfällt somit sehr bald. Mit der richtigen Haltung gelingt es sehr leicht ein solches digitales Lernkonzept umzusetzen.