Die IGLU-Studie 2021 zeigt, dass die Lesekompetenz der Kinder im Vergleich zu den vorhergehenden Erhebungen deutlich abgenommen hat. Die deutschen Ergebnisse liegen insgesamt im Mittelfeld des internationalen Vergleichs. Beunruhigend bleibt jedoch die weite Streuung der Ergebnisse, die auf ein hohes Maß an Bildungsungleichheit hinweist. Der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, fordert eine Reaktion seines der Politik.
Wörtlich kommentiert der VBE-Vorsitzende: „Nach dem IQB-Schock war zu erwarten, dass auch die IGLU-Studie das mangelnde Lesevermögen in der vierten Klasse zeigen wird. Die Frage ist doch aber, was die Politik jetzt konkret unternimmt. Das Messen der Wissenschaft und das Klagen der Politik kennen wir schon. Wahrscheinlich wird es sogar jemanden geben, die nun ein neues Schulfach ‚Lesen‘ fordert. Aber wie will Politik denn wirklich Schulen und Lehrkräfte entlasten, sodass der Fokus auf die Vermittlung basaler Kompetenzen gelingt?“
IGLU-Studie: Coronapandemie hat Schulbetrieb nachhaltig gestört
In der Studie wurde festgestellt, dass bei einer Fortschreibung der bisherigen Entwicklung ohne die Coronapandemie ein deutlich besseres Ergebnis zu erwarten gewesen wäre. Dazu der Bundesvorsitzende: „Bei den aktuellen Debatten um die IQB- und jetzt auch IGLU-Ergebnisse wird außer Acht gelassen, wie langsam sich der Betrieb nach der Coronapandemie erholt und wie schwerwiegend die Störung war. Was wir jetzt wirklich brauchen, ist Zeit und die Möglichkeit, Struktur zu schaffen und zu geben. Stattdessen werden weiter immer mehr Aufgaben an Schule gegeben, sodass die effektive Lernzeit immer geringer wird.“
Flüchtlingswellen stellen Schulen vor weitere Probleme
Brand weist außerdem darauf hin, dass es in den letzten Jahren eine große Herausforderung war, geflüchtete Kinder in die Lerngruppen zu integrieren. „Es ist essenziell für die Integration der Geflüchteten, sich die deutsche Sprache anzueignen. Lesen und Schreiben zu können sind Schlüssel für das weitere Leben hier. Es ist aber unbestritten, dass es schlicht länger dauert, neu ankommenden Kindern aus anderen Sprachräumen die deutsche Sprache näherzubringen als jenen, die schon hier aufgewachsen sind. Deshalb brauchen wir mehr Lehrkräfte mit Kenntnissen in der Vermittlung von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache. Zudem benötigen wir die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, insbesondere auch, um die Kinder mit teils schwerwiegenden Traumata bestmöglich psychologisch zu begleiten.“
Die wichtigsten Ergbenisse der IGLU-Studie 2021 im Überblick:
- Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland liegt bei 524 Punkten. Deutschland unterscheidet sich nicht signifikant vom Mittelwert der EU-Vergleichsgruppe (527 Punkte) oder der OECD-Vergleichsgruppe (527 Punkte).
- Die Leseleistungen in Deutschland sind gegenüber der ersten Erhebung vor 20 Jahren (2001: 539 Punkte) und gegenüber der letzten Erhebung (2016: 537 Punkte) signifikant gesunken. Auch hier unterscheidet sich Deutschland nicht signifikant vom europäischen Gesamttrend.
- Ein Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreicht nicht den Standard für eine Lesekompetenz, die für einen erfolgreichen Übergang vom Lesen lernen zum Lesen, um zu lernen notwendig ist (mindestens Kompetenzstufe III). Mit 25,4 Prozent liegt der Anteil über den Werten von 2001 (17 Prozent) und 2016 (19 Prozent).
- Der Anteil der im Lesen leistungsstarken Schülerinnen und Schüler (Kompetenzstufe V) ist in Deutschland leicht auf 8,3 Prozent gesunken (2016: 11,1 Prozent; 2001: 8,6 Prozent).
- Die Heterogenität der Leseleistungen ist in Deutschland hoch. Sie hat in Deutschland seit 2001 zugenommen.
- Die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben erhebliche Auswirkungen auf die Leseleistung gehabt. Die bei IGLU 2021 in Deutschland beobachtete Lesekompetenz ist signifikant niedriger als es ohne COVID-19-Pandemie bei Fortführung des Trends zu erwarten gewesen wäre.
- Die Viertklässlerinnen und Viertklässler sind im Mittel mit ihrer Schule zufrieden und erleben sie als positiven Lernort.
Lehr- und Lernverhalten:
- Die meisten Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland verfügen über eine im internationalen Vergleich hohe Lesemotivation.
- 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler lesen mindestens eine halbe Stunde täglich außerhalb der Schule. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich hoch (EU: 54 Prozent, OECD: 53 Prozent).
- In der Schule wird in Deutschland zu wenig gelesen. Im Durchschnitt werden in Deutschland pro Woche 141 Minuten Unterrichtszeit für Leseunterricht und/oder Leseaktivitäten verwendet (OECD: 205 Minuten; EU: 194 Minuten).
- Die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien im Unterricht ist in Deutschland im internationalen Vergleich gering ausgeprägt.
Disparitäten:
- Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Lesekompetenzen zugunsten der Mädchen sind wieder auf dem Niveau von 2001.
- Die sozialen Disparitäten in der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Die Viertklässlerinnen und Viertklässler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien weisen nach wie vor starke Kompetenzrückstände auf, die im internationalen Vergleich hoch sind.
- Kinder, die zu Hause (fast) immer Deutsch sprechen, haben Kompetenzvorsprünge gegenüber Kindern, die zu Hause nur manchmal oder nie Deutsch sprechen. Der Kompetenzvorsprung ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im EU- und OECD-Schnitt.
- Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland benötigen für eine Gymnasialpräferenz ihrer Lehrerkräfte eine deutlich höhere Lesekompetenz, wenn ihre Eltern einer niedrigeren Berufsklasse angehören. Kinder von un- oder angelernten Arbeitern benötigen für eine Gymnasialpräferenz eine Lesekompetenz von 575 Punkten während Kinder von Eltern einer oberen Berufsgruppe eine Lesekompetenz von 510 Punkte benötigen.
Weitere Infos
Der Verband Bildung und Erziehung ist Mitglied des Arbeitskreises Kinder- und Jugendliteratur und unterstützt das heute erschienene Positionspapier.
Um im Grundschulbereich konkurrenzfähig zu bleiben, setzt sich der VBE für eine Besoldung nach A 13 ein. Mehr dazu lesen Sie hier.
Hintergrund
Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 2021 (IGLU 2021) ist eine Schulleistungsstudie, mit der die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern der 4. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich untersucht wird. Mehr über die IGLU-Studie 2021 erfahren Sie hier.