Können Sie sich das vorstellen? Aphantasie in der Bildungspolitik

Aphantasie

Gerade habe ich einen wissenschaftlichen Podcast gehört, dessen Thema mir zu denken gibt. Seit einiger Zeit stößt man auch immer häufiger auf einen Begriff aus der neueren Forschung, der einen Zustand beschreibt, den ich bei Mitmenschen schon zu bemerken glaubte, aber nicht zu benennen wusste und der letztendlich vieles erklärt. Es ist die Aphantasie, ein noch wenig erforschtes psychologisches Erscheinungsbild, das ein stark eingeschränktes oder gar fehlendes bildliches Vorstellungsvermögen bei Menschen beschreibt, also einen Zustand, in dem bei der Person keine mentalen Bilder entstehen. Kurz gesagt: „Kopfkino geht nicht.“ Es sollen etwa drei Prozent der Bevölkerung davon betroffen sein.

„Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Bushaltestelle.“ Für die meisten von uns ist das eine leichte Aufgabe, aber für manche Menschen ist das gar nicht zu leisten. Manche können ihren Partner, nahe Angehörige, Tiere oder Gegenstände nicht beschreiben und finden diese auf Bildern auch langsamer. Die Menschen merken in der Regel gar nicht, wenn sie von Aphantasie betroffen sind. Ihnen fehlt nichts, da sie es nicht anders kennen.

Aphantasie gilt weder als Behinderung noch als Defizit

Aphantasie gilt weder als Behinderung noch als Defizit, sondern ist im Gegenteil häufig sogar von hoher Intelligenz begleitet. Die noch nicht erforschte Ursache für Aphantasie kann psychologischen oder traumatischen Ursprungs oder ein Schutzmechanismus des Gehirns sein. Es gibt im Internet Selbsttests mit diagnostischen Schlüsselfragen dazu. „Können Sie sich an Ihren Hochzeitstag erinnern?“ ist beispielsweise so eine Frage.

In der Bildungspolitik meine ich Aphantasie schon mehrmals begegnet zu sein. Eine diagnostische Schlüsselfrage in Verdachtsfällen könnte hier sein: Stellen Sie sich vor, Sie haben in einer Klasse mit 28 Kindern 9, die kein Deutsch können. Oder: Können Sie sich vorstellen, vor einer 8. Klasse mit 30 Schülern Englisch gleichzeitig auf drei Niveaustufen zu unterrichten? Oder: Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten in einem inklusiven Setting mit sieben Inklusionskindern, die unterschiedliche sonderpädagogische Bedarfe haben, und der Sonderpädagoge fehlt bereits die zweite Woche wegen Grippe. Auch die Frage: Können Sie sich vorstellen, wie motiviert eine 8. Klasse nach einer Stunde Chemie und zwei Stunden Sport VERA-8-Tests, die keinerlei Relevanz für ihre persönliche Schullaufbahn haben werden, bearbeitet? Für Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Leserinnen und Leser, kein Problem, da bin ich mir sicher.

Kultusverwaltung auf Aphantasie testen?

Man könnte und sollte sich als Mensch in der Verantwortung für bildungspolitische Fragen, also in der Kultusverwaltung, einmal selbst testen, ob Aphantasie vorliegt. Wie gesagt, kein Beinbruch, aber auf- schlussreich. Die Fragen würde ich zusammenstellen, gern auch im Team oder mit Zuschriften von Kollegien aus baden-württembergischen Schulen. Für ein gutes Miteinander, gegenseitige Wertschätzung und wirkliches Verständnis der bildungspolitischen Entwicklungen, Vorhaben und ihrer Hindernisse würde das einen unschätzbaren Beitrag leisten. Es würde uns Lehrkräften leichter machen, zu verstehen, wie es dazu kommen kann, dass Pläne und Ideen seitens des Kultusministeriums entwickelt werden, die einfach erstklassig anmuten, aber inhaltlich dann so gar keine Gestalt annehmen wollen. Ich mache mal ein Beispiel, damit bei Ihnen beim Lesen ein Bild entstehen kann.

Am 13. Februar 2024 äußerte Frau Ministerin Schopper in einem Interview in der Rhein-Neckar-Zeitung die sehr, wirklich sehr gute Idee, dass der Sprachstand von Kindern unbedingt vor der Einschulung getestet werden sollte. „Ich will keine Kinder mehr einschulen, die nicht schulreif sind“, so die Ministerin. Wer könnte dieser Idee widersprechen? Im Anschluss an diese Ankündigung lief das Vorstellungsvermögen von Praktikern, Verbänden und Kommunen in kürzester Zeit auf Hochtouren. Bei Nachfrage, wer, also welches Personal, das durchführen soll, wo das angesiedelt werden soll, Kita, Grundschule, sonst wo, in welchen Räumen, mit welchen Stunden usw. usw., wurde klar, es fehlt das bildliche Vorstellungsvermögen seitens der Kultusverwaltung. Das innere Auge produziert nichts als Nebel. Ein klarer Fall von Aphantasie, meinen Sie nicht auch?

Aphantasie wird gar nicht als solche erkannt

Die Hilflosigkeit, einfach in Ländern, die das schon lange praktizieren, nachzufragen, zeigt, dass (siehe oben) die Aphantasie gar nicht als solche erkannt wird. Vielleicht handelt es sich hier aber auch um einen Fall von Schutzmechanismus des Gehirns, denn wenn die Pläne Gestalt annehmen würden, könnten sie unter Umständen auch Kosten verursachen, und das geht nicht in der Bildung. Schon gar nicht in Baden-Württemberg, da sind sich vermutlich der Ministerpräsident, der Finanzminister und die Kultusministerin, allesamt Parteifreunde bis zum nächsten Wahlkampf, einig. Erst dann hat Bildung wieder absolute Priorität. Aber ich schweife zugegebenermaßen vom Thema ab.

„Die Ausgestaltung lässt auf sich warten“. schrieb die Presse im Februar, als von den Plänen zu Maßnahmen wie Sprachtests, Förderung und Juniorklassen die Rede war. Ein Sprecher des Ministeriums habe keine weiteren Einzelheiten öffentlich machen wollen, so die Presse. Die Frage ist: Hätte er können? Wenn man sich all das mit dem Phänomen Aphantasie erklären kann, ist es plötzlich ganz einfach, und das ist eine Erleichterung, finden Sie nicht?

Aphantasie, wohin man blickt

Auch bei weiteren Themen und Vorhaben fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Aphantasie, wohin man blickt. 259 Schulleitungsstellen sind derzeit in Baden-Württemberg nicht besetzt. Das Kultusministerium findet diese Zahlen nicht besorgniserregend. Menschen wie ich, die sich bildlich vorstellen können, was es für eine Schulgemeinschaft bedeutet, wenn eine volle Stelle und damit auch die Stunden in der Schulleitung fehlen, die Konrektorin oder der Konrektor beide Stellen gleichzeitig auszufüllen hat oder womöglich sogar die dienstälteste Lehrkraft zur Leitung verpflichtet werden muss, sind sehr wohl besorgt. Auch besorgt um die Gesundheit der Lehrkräfte, die halt noch ein Schippchen drauflegen und Dinge selbst organisieren müssen, die normalerweise eine Schulleitung erledigt.

Was die angestrebte Bildungsallianz, genannt „Schulfrieden“, der Regierungs- und der Oppositionsparteien betrifft, so wären auch hier vor dem unlängst angesetzten Spitzengespräch bei Ministerpräsident Kretschmann ein paar Aphantasie-Diagnostikfragen zu stellen gewesen. Natürlich waren bei dem Meeting keine konkreten Ergebnisse erwartet worden, eher Absichtserklärungen, sich nicht mehr mit kritischen Nachfragen zur Bildung immer gegenseitig zu nerven, je nachdem, wer gerade in der Verantwortung ist.

Immerhin kann man bei solchen Treffen der eigenen inneren Leere bezüglich der Vorstellungskraft einer funktionierenden Schullandschaft mit Erinnerungen an die eigene Schulzeit damals begegnen oder bemerken, dass Klassengrößen, die schon immer funktioniert haben, ewig gültig sein werden. Was nicht funktioniert, ist sowieso immer die Schuld der Lehrkräfte. Klassengefüge in diesen Zeiten, mit größtmöglicher Heterogenität, Inklusion, Integration, Autismus, familiärer Kindesvernachlässigung mit Amtsvormundschaft, Bildungsverweigerung, Kriegserlebnissen, Fluchterfahrungen usw., können aufgrund der auch hier sicher auf- tretenden Aphantasie nicht berücksichtigt werden. Hauptsache, es herrscht Frieden im Parlament.

Aphantasie beschränkt sich nicht nur auf das Kultusministerium

Nun glauben Sie aber nicht, dass sich Aphantasie auf dem Gebiet der Bildungspolitik nur auf das Kultusministerium beschränkt. Frau Wissenschaftsministerin Olschowski schlägt als neueste Idee zur Weiterentwicklung (von was eigentlich?) den Ein-Fach-Lehrer vor, und zwar für das Fach Mathematik. Mit Aphantasie scheint das ein legitimes Anliegen, mit auch nur ein wenig Phantasie entsteht das innere Bild eines solchen Menschen, der nur Mathematik kann und will und auch nur Mathematik unterrichtet, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, bis das Schuljahr vorbei ist. Ungeachtet der Kinder. Schließen Sie einfach die Augen und stellen Sie sich das in all seinen Facetten vor.

Was aber ist zu tun? Was könnte helfen, wenn all diese Ideen und Pläne, die mit den besten Absichten klug begonnen und gedacht wurden, einfach keine Gestalt annehmen wollen? Man müsste Menschen suchen, bei denen das innere Bild entsteht, die wissen, wie es gehen könnte, die denken, planen und ausführen können. Menschen, in deren Innerem ein reicher Schatz von Erfahrungen und Kompetenzen nur darauf wartet an die Oberfläche zu dürfen. Menschen, die sofort verfügbar wären und morgen loslegen können, wenn man sie nur lässt. Menschen, die Lust auf das Gelingen von Schule haben.

Es gibt in Baden-Württemberg laut amtlicher Statistik 116.343 davon. Man nennt sie Lehrerinnen und Lehrer.

Andrea Friedrich, Mitglied im Landesvorstand des VBE