Ich sage es mal mit der Abwandlung eines alten Werbeslogans von Klosterfrau Melissengeist: Nie waren Ferien so wertvoll wie heute! Stimmt schon, was ein Kollege bei seiner Verabschiedung gesungen hat: „Ich wollte einfach nur mal wieder unterrichten“, wohl wahr. Jetzt wissen wir alle spätestens seit dem Referendariat, dass zum Lehrersein halt mehr gehört, als die Chemiestunde in der 8a zu halten oder den Deutschunterricht der 1c vorzubereiten. Es wäre vielleicht schön, wenn dies doch so wäre, aber es war eben noch nie so.
Weshalb selbst die größten Skeptiker irgendwann gesagt haben, dass man mit einem normalen stundenbasierten Arbeitszeitmodell bei Lehrkräften nicht wirklich weiterkommt. Man entschloss sich also zu einem deputatsbasierten Modell, um dem Vor- und Nachbereitungsaufwand und den ganzen anderen Aufgaben einer Lehrkraft irgendwie gerecht zu werden. Das hat über Jahrzehnte mehr oder weniger gut funktioniert, aber es hat eben funktioniert.
Arbeitszeit neu definieren?
Dass dies inzwischen nicht mehr der Fall ist, versteht jeder, der sich nur einen Unterrichtsvormittag den mannigfaltigen Herausforderungen in einer Klasse gestellt hat. Damit meine ich nicht unbedingt die große Heterogenität in Bezug auf die Unterrichtsgestaltung in einer Klasse – ganz egal ob Grundschule, Haupt-/Werkrealschule, Realschule, Gemeinschaftsschule oder gar SBBZ – sondern vor allem die unglaublich großen Unterschiede in Bezug auf die Voraussetzungen, die Unterricht erst möglich machen. Jeder, der schon einmal Sport in einer Grundschulklasse gegeben hat, weiß wovon ich rede. Ich sage nur umziehen und Schuhe binden! Für die „Sek-1-ler“ auch gerne zu ersetzen durch „Der-hat-aber-und-ich-hab-dann-nur …“ oder die vielen anderen vermeintlichen Kleinigkeiten, die so rund um das Unterrichten ablaufen.
Ganz egal welche Schulart oder Schulstufe: Alleine die durch den gesellschaftlichen Wandel so perfekt schleichend in unsere Klassen hineingetragenen Zusatzaufgaben haben in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Ganz zu schweigen von den vielen anderen mehr oder minder sinnvollen Aufgaben, Projekten und Modellversuchen, die man uns Lehrkräften angedeihen lässt, damit wir endlich mal gescheiten Unterricht machen. Das Überlastetsein oder wahlweise auch das Bedürfnis, mehr netto vom brutto zu unterrichten, ist also nachweislich mehr als ein Gefühl oder eine Wahrnehmung. Es darf getrost und unbestritten als gesicherter Fakt angenommen werden. Es braucht also endlich eine Neudefinition von Arbeitszeit in unserem Bereich.
Hamburger Arbeitszeitmodell
Meine Oma pflegte in solchen Fällen in einer Art Stoßgebet immer zu sagen: „Alles Gute kommt von oben!“ Nein, Theologie gehört wirklich nicht zu meinen studierten Fächern. Dafür ist meine Frau zuständig. Studierte katholische Religionslehrerin eben, die mich „Wüstgläubigen“ (so nennt man wohl scherzhaft uns evangelische Christen dort, wo sie herkommt) gerne mit so mancher Bibelstelle eines Besseren belehren will.
In Stuttgart schielt man in letzter Zeit zwar nicht nach oben in den Himmel, aber immer auffälliger gegen Norden. Nein, nicht nach Finnland, sondern nach Hamburg oder Schleswig-Holstein. Dort liegt wohl seit neustem der „heilige Bildungs-Grahl“ begraben. Wahlweise auch gerne nach Kanada, aber eben selten nach Südkorea, obwohl das Land geradezu ein PISA-Überflieger ist. Vermutlich, weil es eben im Süden liegt, also unten und das ist ja immer schlecht. Komisch. Bei Prosecco und Spaghetti läuft das anders. Das kommt ja auch aus dem Süden, ist aber trotzdem sehr gut angesehen. Egal.
Im Falle der Lehrerarbeitszeit ist dies das Hamburger Modell. Kennen Sie? Nein? Ich versuche es mal sehr vereinfacht in kurzen Worten zusammenzufassen. In Wirklichkeit ist das Ding grausam komplex und ich frage mich, wer das jemals kontrollieren will:
- Stundenbasierte Wochenarbeitszeit von 46,57 Stunden (wegen des Ferienüberhangs)
- Jede Lehrkraft bekommt ein Zeitbudget für allgemeine Aufgaben
- Ein weiteres Zeitbudget gibt es für Funktionen (z.B. Klassenlehrer, Verbindungslehrer etc.)
- Das Kernstück sind dann die sogenannten Unterrichtsfaktoren, die Zeit, die man für eine Stunde Unterricht erhält.
Unterrichtsfaktoren
Diese Unterrichtsfaktoren richten sich nach Fach, Schulstufe und Schulart. Aha. Wie sagt Atze Schröder doch immer so schön? Jetzt kommen wir dahin, wo der Frosch die Locken hat. Nehmen wir mal eine Deutschstunde. In der Primarstufe (egal ob Klasse 1 oder 4) ist diese 1,3 Arbeitsstunden wert. In Klassenstufe 5/6 sind es 1,5 Stunden, aber nur im Bereich HS /RS/Gesamtschule (GS). Am Gymnasium natürlich schon 1,6 Stunden. Das bekommen in Hamburg HS/RS/GS-Lehrkräfte aber erst ab Klassenstufe 7. Dafür bleiben diese aber dann unverändert bis Klassenstufe 10, während am Gymnasium die Deutschstunde mal locker auf 1,7 bzw. 1,8 ansteigt. „Ja, is‘ klar“, würde Atze sagen. Das muss so. Dort haben wir ja auch die höchsten Anforderungen in Bezug auf Heterogenität und daraus resultierenden Unterrichtsvorbereitungen. Die ganzen Korrekturen erst.
Zudem haben Gymnasiallehrkräfte nachweislich eh die höchste Arbeitsbelastung, wie mir einmal ein Verbandsvertreter aus diesem Bereich erklärt hat. Aha, sehr interessant. Von Heterogenität oder Inklusion weitestgehend verschont und nachweislich durch schlichte Zahlen belegt, aber ist halt ungleich viel komplexer, das unterrichtliche Geschehen dort. Und die ganzen Telefonate mit den Rechtsanwälten der Eltern wegen des letzten Diktats von Finn-Torben und Emilia-Marie erst. Die wollte ich auch nicht führen. Muss man doch verstehen.
Auch spannend, wenn man zwischen den Fächern mal querliest. Für Sport bekommt man 1,25 Stunden und für Kunst immerhin 1,3 Stunden. Dafür gibt’s für Technik 1,4 Stunden und ab Klassenstufe 7 sogar 1,45 Stunden.
Modellrechnungen nach Schularten
Wirklich richtig interessant wird es dann, wenn man sich die Modellrechnungen für die einzelnen Schularten anschaut. Dort sind dann zwar unterschiedliche Ermäßigungen und Anrechnungen eingebaut, aber im Regelfall kommen wir mit der regelmäßigen Unterrichtsverpflichtung genau dorthin, wo wir mit einem Deputatsmodell auch sind: In der Primarstufe arbeitet man 28 Unterrichtsstunden, an den Sonderschulen 27, an der HS/RS/GS 26 und am Gymnasium 24. Dies lässt sich nur durch die Übernahme von Funktionen deutlich reduzieren. So ähnlich also wie bei uns.
Manchmal braucht es vielleicht komplizierte Ansätze, mag sein, aber wer die Arbeitsbelastung von Lehrkräften wirklich senken will, hat vier effektive Hebel:
- Klassengröße reduzieren
- Deputate senken
- Anrechnungen für außerunterrichtliche Tätigkeiten erhöhen
- Lehrkräften mehr Unterrichten durch multiprofessionelle Teams ermöglichen
Im Unterschied zu den komplexen Modellen, bei denen begeisterte Erbsenzähler ihrem Hobby frönen können, kosten diese aber weniger Nerven und kaum Diskussionen über die Wertigkeit von Unterricht an den unterschiedlichen Schularten und in den unterschiedlichen Schulstufen nebst Fächern. Sie bringen sogar tatsächlich was. Nicht nur in Bezug auf die Belastung der Lehrkräfte oder der Attraktivität des Berufs (und damit der Lehrkräftegewinnung), sondern auch in Bezug auf die Unterrichtsqualität. Kosten aber leider auch was. Nämlich Geld und das fällt bekanntlich nicht vom Himmel, wie meine Oma schon sagte. Wer aber Qualität will, musste schon immer ein bisschen mehr dafür ausgeben. Von wem nochmal dieser Werbeslogan so oder so ähnlich war, fällt mir gerade leider nicht ein.