Herrlich! Ich sitze mit einer Frau am sommerlichen Frühstückstisch, genieße eine gute Tasse Tee und blättere in der Zeitung. Sie mümmelt auf einer Scheibe Wassermelone rum, was ich überhaupt nicht leiden kann. Ich esse ja fast alles und gerne, was man leider auch sieht, aber bei Wassermelone bin ich definitiv raus. Also hole ich tief Luft. Meine Frau schaut schon kritisch, denn sie rechnet wie üblich mit einer Unmutsäußerung von mir über ihren Melonenkonsum. Aber falsch gedacht. Ich stolpere über das Interview einer zumindest in Baden-Württemberg namhaften Bildungsforscherin. Eigentlich wollte ich mich ja beim Frühstücken nicht mehr aufregen. Aber das Ding löst bei mir sogar noch größere Würgereize aus als die Melonenschnitze.
Besagte Forscherin philosophiert mal wieder über ihre Vorstellungen der „zweiten Säule“ und die Einheitsschule. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber es gibt Begriffe, die ich absolut nicht mehr hören kann. Unter den Top 10 findet sich definitiv genau dieser.
Ich habe es ehrlich gesagt noch nie verstanden, warum es „zweite Säule“ heißt. Wir reden hier über diejenigen Schularten, welche die meisten der Schülerinnen und Schüler besuchen und die nach Meinung der Bildungsforscherin nun irgendwie zusammengefasst gehören. Für mein Empfinden wäre dies dann allerdings die „erste Säule“ oder verstehe ich da etwas falsch? Aber Sprache schafft Wirklichkeit und manchmal entlarvt sie auch, zumindest dann, wenn sie wertet. Der Hauptfokus liegt halt auf dem Gymnasium und die anderen Schularten scheinen zumindest in der Lebenswelt der Dame eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Warum dann nicht ehrlicherweise gleich von „Restschule“ reden, denke ich mir da. Ihrer Meinung nach braucht es also in Ergänzung zum Gymnasium eine einheitlich funktionierende Komplementärschule (wäre ja auch ein netter Begriff), die dann auch noch das Gymnasium imitieren soll und eher so etwas wie eine dienende Funktion zu haben scheint und sei es nur zum „Abschulen“ (steht auch auf der Liste) nicht erwünschter Kids. Klar, wenn ich mich halt in überwiegend akademisch geprägten Kreisen bewege, scheint alles andere zwar auch irgendwie zu existieren, aber ob es mich wirklich interessiert, ist ein andere Frage.
Apropos „Abschulen“. Was da oft von Gymnasium bei unseren Schulen landet, sind dann eher desillusionierte, ursprünglich gymnasial empfohlene Kids, also Kids, die eigentlich mit einer WRS-Empfehlung dort gelandet sind. Gerne auch solche, die aufgrund ihres Verhaltens als zu „originell“ für das Gymnasium betrachtet werden oder solche, die aufgrund ihres mehr oder minder stark ausgeprägten Schulabsentismus eine zu große pädagogische Herausforderung darstellen. Na danke auch. Bei einer Ausstattung des Gymnasiums mit fast 105% Personalversorgung sollen dann also die „Anderen“ mal Wunder bewirken, die nicht mal 100% Personal an Bord haben und teilweise nicht mal ausreichend mit Poolstunden versorgt sind. Warum überlegt sich denn nicht mal das Gymnasium, wie es im eigenen Haus mit dem Scheitern dieser Schülerinnen und Schüler umgehen kann? Warum muss ich denn auch noch die Probleme meines Nachbargymnasiums lösen?
Apropos Probleme lösen. Warum muss diese „zweite Säule“ eigentlich einheitlich sein? Noch so etwas, das ich nicht verstehe. Zeichnen sich die Kids denn nicht genau dadurch aus, dass sie sehr unterschiedlich sind und ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben? Und wäre es da nicht sinnvoller, bedarfsorientiere Lösungsansätze aufzuzeigen, anstatt eine Einheitslösung zu propagieren?
Und dann fällt das zweite Wort mit Würgereizpotenzial: Bildungsgerechtigkeit. Okay, auch ich habe davon profitiert, ein Gymnasium besuchen zu können, obwohl meine strukturellen Voraussetzungen nicht unbedingt für den Besuch gesprochen haben. Meine Eltern waren sicher alles andere als akademisch geprägte Bildungsbürger. Was sie jedoch verstanden hatten, war, dass Bildung und Schule einen hohen Wert haben. Sie waren immer für mich da und vor allem immer interessiert daran, was bei mir schulisch so lief. Unterstützt haben sie mich natürlich auch, soweit es ihnen möglich war. Meine Mutter stieg zwar irgendwann nach Klasse 6 aus, als sie bei Mathe überfragt war und mein Vater außerdem die Meinung vertrat, dass, wenn man etwas erreichen will, man auch selbst dafür die Verantwortung übernehmen muss. Dennoch blieb da der freundliche Daumen im Genick, wenn er angebracht war.
Mir ist schon klar, was die Bildungsforscherin will: Sie möchte gerne, dass alle Kinder Zugang zu einer Bildung haben, die ihre Potenziale optimal fördert. Dieses Anliegen teilen wir zu tiefst. Viel zu oft sind mir da Dinge in meiner beruflichen Vita begegnet, die mich sprachlos zurückgelassen haben. Ich erinnere mich z.B. noch sehr genau an einen Vater, der mir erklärte, dass seine Tochter nicht weiter auf die Schule gehen, sondern lieber heiraten, Kinder bekommen und sich um den Haushalt kümmern soll. Seiner Meinung nach würde das völlig genügen, Talent hin oder her. Ob man das mit Schulstrukturen verhindern kann, wage ich sehr zu bezweifeln. Auch damals hätte ich mir andere Mittel gewünscht, die ich leider nicht hatte und auch nie haben werde, auch nicht in anderen Schulstrukturen.
Wie jetzt ausgerechnet dazu eine zweite Schulart neben der „Restschule“ gebraucht wird und auch noch dienlich ist, diese Frage stellte der Forscherin leider niemand in diesem Interview. Scheint irgendwie wohl zutiefst irrelevant zu sein. Wäre es da nicht viel ehrlicher zu sagen, dass wenn wir mehr Kindern Zugang zu einer akademischen Bildung gewähren wollen, wir genau diese Kinder dann nicht separieren sollten und das Gymnasium 2.0 dann sinnvoller Weise erst dann beginnt, wenn es benötigt wird, nämlich nach Klasse 10 und nicht als Paralleluniversum zur Separierung von unerwünschten sozialen Kontakten im Bildungskosmos? Was wir da Geld sparen könnten und vor allem von Synergien profitieren würden, wäre wirklich interessant. Dann hätten wir bestimmt genügend Geld und Lehrkräfte, um effektiv Kinder schon im frühkindlichen Bereich adäquat fördern und ihre Talente wecken zu können. Und ganz sicher hätten wir endlich echte Förder- und Forderstunden in den Grundschulen. Von Frau Professorin höre ich davon leider keinen Ton.
Meine Frau schaut mich nach meinem Verbalanfall fragend an: „Du hast ja recht, aber willst du dich nicht lieber über mein Melonenfrühstück, meine Overnight Oats oder den Naturjoghurt aufregen? Das ist bestimmt besser für deinen Blutdruck“. Recht hat sie. Overnight Oats. Früher hieß das mal Bircher-Müsli und sah nicht aus wie Froschlaich, Quinoa sei Dank.
Dirk Lederle, Stv. Landesvorsitzender