Es ist Samstag. Gott sei Dank. Wir sitzen gerade beim entspannten Geburtstagsfrühstück unseres Jüngsten. Mein Gott, ist der groß geworden! Herrlich. Alle haben Zeit und sitzen völlig entschleunigt da. Nicht wie sonst alles irgendwie kurz vor dem Absprung. Dieses Bild hatte in den letzten beiden Jahren absoluten Seltenheitswert. Meine Frau seufzt tief und nimmt genüsslich einen Schluck aus der Kaffeetasse. „Tempus fugit“, bricht es aus ihr hervor. Ich verschlucke mich fast: „Wie bitte? Ich dachte immer, du warst nicht auf so einem altsprachlichen Traditionsdingsbums, oder hast du etwa zu viel Asterix & Obelix gelesen?“ Aber im Grunde hat sie recht. Wie doch die Zeit vergeht.
In der Tat, nicht nur bei unseren Kin- dern, sondern auch in der Schule. Ich versinke in Gedanken. Schon wieder fast Pfingstferien, dabei hat das Schuljahr doch gefühlt gerade erst begonnen. Und wie jedes Jahr zu diesem Zeitpunkt steht extrem viel an. Die Abschlussprüfungen haben gerade begonnen. Alle sind irgendwie gefühlt entweder mit den Erstkorrek- turen beschäftigt – und wie jedes Jahr habe ich da extremes Mitleid mit meinen Deutschlehrkräften – oder warten auf die Zweitkorrekturen, so wie ich. In der Grundschule laufen gerade die Schuleingangstests bei uns. Die letzten Klassenarbeiten laufen auch noch und „business as usual“ ist ja sowieso.
Als wäre dies alles nicht schon genug, scheinen sowohl die Kids als auch wahlweise deren Eltern zu spinnen. Es geht halt aufs Schuljahresende zu und da liegen bei einigen offensichtlich die Nerven blank. Da flatterte neulich schon wieder so eine Mail auf meinen Desktop.
Hauptsache erst einmal verbal die grobe Keule schwingen …
Eine Mutter beschwert sich vehement darüber, dass die Schule nichts tut. Ach, was sage ich, noch nie etwas getan hat. Niemand interessiere sich für die Probleme ihres Sprösslings, dabei werde der immer und ständig von älteren Schülern auf dem Heim- weg drangsaliert. Seit Wochen gehe das so. Ohne Anrede in der Mail oder gar Grußformel zum Schluss. Ich wundere mich nicht nur darüber, denn die junge Klassenlehrerin ist doch eine absolut engagierte Kollegin, die stets ein offenes Ohr für die Probleme ihrer Kids hat. Ich gehe auf sie zu und frage nach. Sie schaut mich nur erstaunt an. Niemand hat offenbar mit ihr darüber geredet. Weder der Junge noch die Eltern. Hellsehen gehört wohl noch nicht zum Ausbildungsstandard am Seminar. Eine Stunde später steht das Ergebnis dann fest: Offenbar handelt es sich um größere Schüler des benachbarten Gymnasiums und auch mit ihrer Co-Klassenlehrerin hatte niemand gesprochen, auch der Junge übrigens nicht. Das gehört wohl zum Zeitgeist. Entschuldigung, natürlich meine ich: O tempora, o mores. Hauptsache, erst einmal verbal die grobe Keule schwingen und bloß nicht mit den Leuten reden, die es betrifft.
So wie neulich in einer WhatsApp- Gruppe der „besonders besorgten“ Eltern. Darin wurde über einen sehr verdienten und beliebten Kollegen hergezogen. Da wird ein Post-Ping-pong sondersgleichen entfacht, von wegen, was alles aus der „pädagogisch fundierten“ Sicht der Eltern schiefläuft, und es werden mehrminütige Sprachnachrichten verschickt, die eher an Verbaldurchfall und übelste Verleumdungen im Stile von „Frau Müller muss weg!“ erinnern, als dass sie Gesprächsbereitschaft oder gar einen konstruktiv-wertschätzenden Ansatz erkennen lassen. Da muss sich offensichtlich in stundenlanger Kleinarbeit ausgetauscht worden sein, aber haben diese Mamis etwa schon mit dem Kollegen gesprochen? Ich wette, Sie kennen die Antwort. Verstehe ich das? Nein. Nur ein einziges maximal fünfminütiges Gespräch mit dem Kollegen, und vieles von der subjektiv geäußerten Befindlichkeit der Sprösslinge hätte sich relativiert. Stattdessen wird das, was zu Hause von denen erzählt wird, für absolut genommen, dann in der Gruppe kommuniziert und dort dann noch durch andere Unbeteiligte verstärkt. Es sei ja hinlänglich bekannt, dass der Kollege so sei, und außerdem sei dies schon immer so gewesen. Man kenne ja schließlich jemanden, der so etwas Ähnliches von jemandem schon gehört habe. Am Ende ist aus einer Mücke der viel zitierte Elefant entstanden. Hauptsache, möglichst viele Menschen sind mit dem Ego einiger weniger beschäftigt und die Schulleitung muss dann im Nachgang stundenlang die Scherben beseitigen.
Was mich fast so sehr schockiert wie die Wortwahl dieser Muttis, ist das Factum, dass offensichtlich niemand in dieser Elterngruppe einfach mal Stopp gesagt hat oder mit dem Vorschlag um die Ecke bog, das direkte Gespräch, vielleicht auch über die Elternvertreter, zu suchen. Hat sich jemand von diesen Eltern eigentlich schon einmal überlegt, was dies mit dem betroffenen Kollegen macht? Ist denn niemand von denen auf die Idee gekommen, dass Lehrkräfte auch Menschen sind? Wie würden denn genau diese Muttis damit umgehen, wenn klein Finn-Thorben oder Emilia- Emmelie in einer WhatsApp-Gruppe verbal so angegangen würde. Ich höre jetzt schon die empörten Mobbing-Schreie und die guten Ratschläge, was die Schule denn alles dagegen machen muss. Gerne auch schon mal wird präventiv gleich mit dem Anwalt gedroht wegen – da haben wir sie wieder – der hinlänglich bekannten Unfähigkeit und vor allem Untätigkeit der Schule.
Ich seufze tief, wie meine Frau zuvor, und nehme einen großen Schluck von meinem Tee. Auch dieses Jahr wird es nicht nur wieder Pfingsten werden, sondern auch das Schuljahr enden und wir werden alles Schulische hin- ter uns gebracht haben. „Bene eveniat!“, sage ich zum Schluss. Meine Frau nickt anerkennend. „Cicero. Alles wird gut. Hauptsache, bald Ferien.“
Dirk Lederle,
Schulleiter Johanniterschule Heitersheim,
stellvertretender VBE- Landesvorsitzender