Orchideenzeit

Orchideen, Sie wissen schon, sind diese manchmal etwas unwirklich aussehenden Gewächse, die im Haus am besten da gedeihen, wo sonst nichts gedeiht. Licht und Sonne sind ziemlich unnötig, gießen auch. Die Gewächse beanspruchen nicht mal Platz für ihre Wurzeln. Also am besten im Nordfenster platzieren, nicht pflegen und sich trotzdem der Blüten erfreuen. Sie werfen sie dann irgendwann wieder ab. Wie es dann mit den unansehnlichen Töpfen weitergeht, steht in den Sternen.

Solche „Orchideen“ gibt es auch bei den bildungspolitischen Themen, die jede Kultusministerin oder jeder Kul- tusminister für sich entdeckt. Das ist immer nur eine Frage der Zeit. Man platziert diese Themen und wartet ab, wie sich die öffentliche Diskussion entwickelt. Geeignete Themen sind immer kostenneutral und auf jeden Fall pädagogisch und didaktisch marginal, aber sie polarisieren und beschäftigen die Öffentlichkeit wie etwa Gewerkschaften und Verbände, Elternvertreter und Medien. Darüber werden dann gern wichtige Themen zumindest temporär vergessen. Ich komme gleich darauf zurück.

Bildungsziele. Sind die überhaupt noch Konsens?

Unlängst zeigte mir eine befreundete Lehrkraft, die an einem Gymnasium unterrichtet, Klassenarbeiten am Ende der 5. Klasse, also auf dem E-Niveau, dem höchsten, das in Baden-Württemberg zu vergeben ist. Die Rechtsschreibleistung war bemerkenswert. Eine kleine Auswahl: fertrauen, Adwend, ein Man, liber Papa, Fater, Söne und Tochtern und dergleichen mehr. Die Arbeiten waren gespickt mit solchen Fehlern. Keines der Kinder hat einen Migrationshintergrund. Alle haben eine Gymnasial- empfehlung.

Für Lehrkräfte, die in der Sekundarstufe auf M- oder auf G-Niveau unterrichten, ist das ja nicht unbekannt. Da ist man schon froh, wenn sich Wörter überhaupt entziffern lassen, bzw. man den Sinn erschließt, wenn man sich beim Korrigieren das Wortgebilde selbst laut vorliest.

Apropos vorlesen. Nur noch ein Teil der Schülerinnen und Schüler in Klasse 5 kann selbst flüssig lesen. Die Zeit, die sie brauchen, um still einen Text zu lesen differiert stark. Mit dem Schreiben hapert es ebenfalls bei vielen. Eine vernünftige Handschrift ist in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist der Anspruch auch völlig gestrig und es mag sein, dass es halt mehr am Tablet geübt wird, das Schreiben. Warum dann aber die Rechtschreibung auch nicht klappt? Keine Ahnung.

Auch nicht gut funktioniert generell die Feinmotorik. Lassen Sie Kinder in Klassenstufe 5 oder 6 einmal an der Tafel mit Kreide oder gern auch dem Whiteboard mit dem Marker einen Kreis frei zeichnen. Sie werden bemer- ken, dass der Kreis häufig nicht geschlossen ist, sondern eher einem Kringel ähnelt. Einen Kreis zu schließen ist eine grundlegende Fähigkeit des Menschen und sollte bereits in der Vorschule geleistet werden können. Auf Psychologie und Morphologie der Kinderzeichnung und ihre diagnostischen Möglichkeiten für die Einschätzung der Entwicklung eines Kindes möchte ich nicht näher eingehen, es wäre aber interessant.

Auch sollte man mit 10 Jahren mit einem Lineal unterstreichen oder einer Schere schneiden können. Viele Kinder können das, viele nicht, bzw. zunehmend nicht mehr. Früher konnten sie das, aber irgendetwas ist da in den letzten ca. 20 Jahren verrutscht. Hier könnte man nun ansetzen, wenn man sich um die Qualität der Bildung in Baden-Württemberg bemühen möchte.

Wenn grundlegende Fertigkeiten und Kompetenzen in Klasse 5 fehlen, wie kann sich eine Lehrkraft an irgend- welche Bildungsstandards der Sekundarstufe wagen? Egal, ob G-, M- oder E-Niveau. Wie können die Inhalte, die im Bildungsplan sauber auf 6 oder 8 Jahre verteilt sind, erreicht werden?

Die Frage stellt sich täglich und lässt Lehrkräfte an allen Schularten mehr oder weniger verzweifeln und in Gesamtlehrerkonferenzen, Fachkonferenzen, Stufenkonferenzen und pädagogischen Tagen nach Lösungen suchen. Wie man es dreht und wendet, es kommt immer heraus, dass mehr gefördert, geübt und gelernt werden muss. Und zwar von Anfang an. Förderung kostet Lehrerstunden, das heißt Zeit und Geld. Das benötigte Geld für Bildung ist aber nicht da. Es war nicht da, als es dem Länd finanziell so gut ging wie lange nicht und jetzt mit den ganzen Krisen, der Pandemie und dem Gas und dem Öl und dem Klima und dem Krieg ist schon gar kein Geld mehr da.

Unbedingt müssen natürlich auch die Kosten zurückgelegt werden, die die vom Landtag im April beschlossene Wahlrechtsreform nach sich zieht und die den Landtag um 62 Sitze vergrößern wird. Man kalkuliert mit 125.5 Millionen Euro Mehrkosten pro Legislaturperiode.

Wenn man den Landtag vergrößert, kann man natürlich keine Klassen verkleinern. Und da kommen sie eben ins Spiel, die Orchideen, die von der eigentlichen Problematik an den Schulen ganz wunderbar ablenken und uns beschäftigen und zu nicht wissenschaftsbasierten Debatten anregen. Es ist ein wenig enttäuschend, dass nun nicht mal was Neues kommt, sondern der alte Ladenhüter „Schule ohne Noten“ wieder aus der Schub- lade gezogen werden muss. Muss man sich bezüglich der inhaltlichen Diskussionen am KM Sorgen machen? Kommt als nächstes die Idee eine Bil- dungsplattform, sagen wir mal „Ulla“, einzuführen?

Schule ohne Noten

Im Schuljahr 2022/23 startet es also wieder, das Modellprojekt „Schule ohne Noten“, das bereits von 2013 an 10 Schulen lief, bis es die letzte Kul- tusministerin 2017 recht ansatzlos abbrach. Eine wissenschaftliche Evalu- ation war das Länd schuldig geblie- ben. Damals gab es viel Zustimmung, aber auch viel Ablehnung, was immer auf persönlichen Meinungen beruhte. Mit Meinungen ist das so eine Sache. Oft speisen die sich aus eigenen Schulerfahrungen, Hörensagen oder einer blühenden Phantasie.

Unsere Kultusministerin begründet die Neuauflage des Modellprojektes „Schule ohne Noten“, das dieses Mal an 39 Schulen laufen soll, mit „dem Phä- nomen des bulimischen Lernens“, wo für Tests oder Klassenarbeiten gepaukt und danach alles wieder vergessen werde. „Damit ist kein Bildungsziel erreicht, und das verstehe ich auch nicht unter Qualität“, so die Ministerin (Stuttgarter Zeitung, 23.06.22).

Diese persönliche Meinung kann sie natürlich haben. „Bulimisch“ macht die Aussage durch die bildliche Vor- stellung, die der Zeitungsleser dabei hat, auch noch schön saftig. Gleichzeitig ist die Aussage ein harter linker Haken auf das Kinn der Lehrkräfte. Eine Ministerin, die der fachlichen Qualifikation ihrer Lehrkräfte in Bezug auf die Leistungsüberprüfung nicht vertraut. Chapeau, eine gelungene Orchidee.

Als Lehrerin, also Frau aus der Praxis, die ein Vierteljahrhundert 1000ende von Schülerinnen und Schüler bis zur Mittleren Reife begleitet hat, weiß ich, dass man im Unterricht den Unterrichtsstoff bearbeitet und übt, damit die Kinder können, was sie auch können müssen. Dann stellt man eine dementsprechende, auch diagnostische Klassenarbeit zusammen. Es ist völlig aus der Luft gegriffen, dass Lehrkräfte Klassenarbeiten über unnützen Kram schreiben lassen, den man getrost wieder vergessen kann, da er keinerlei Relevanz im Lernfortschritt der Kinder hat, nur damit eine „Note“ rauskommt.

Wie Schülerinnen und Schüler ohne manchmal auch zu „büffeln“ (jetzt hab ich`s gesagt) wichtige Inhalte lernen sollen, verstehe ich nicht. Rechtschreibung, das Einmaleins und vieles mehr lernt man nicht durch Handauflegen. Unterrichtselemente wie Freiarbeit, Projektunterricht, Lernlabore, Lerntheken, individuelles Lernen, halte ich persönlich in einem modernen Unterricht für unerlässlich, aber sie lösen nicht das Problem, dass es manchmal sehr anstrengend und wenig lustig ist, sich Wissen anzueignen. Dazu braucht es klare Strukturen, ab und zu öde Phasen und auch Leistungsüberprüfungen. Intrinsische Motivation ist nicht immer bei allen für alle Unterrichtsinhalte vorhanden.

Manchmal ist eine Note, ein „Ausreichend“ oder eine Punktzahl auch ein Ansporn oder ein Warnblinker, der eine andere Entwicklung einläuten kann.

Und noch ein Wort zu den guten Schülerinnen und Schülern: eine Kindheit ohne „Einser“ ist wie eine Meisterschaft ohne Pokal oder eine Olympiade ohne Medaille. Einfach trostlos. Statt Gold ein „das haben Sie aber sehr sehr gut gemacht beim Weitsprung“ vom Funktionär? Menschen sind so nicht gemacht.

Kleine Lerngruppen, Zeit für individuelle Förderung, multiprofessionelle Teams, Zeit für individuelle Konzepte an den so unterschiedlichen Schulen des Landes und ja, auch mehr Lehrkräfte, wären ein Ansatz, die Unterrichtsqualität und damit die Qualität der ganzen Bildungslandschaft von der Grundschule bis zur Sekundarstufe oder der Berufsschule zu steigern.

Es mag Gründe geben Schülerleistungen nicht zu benoten, aber wie „keine Noten“ statt Noten die Unterrichtsqualität steigern sollen, ist mir ein Rätsel.

Verbale Beurteilungen

Es könnte nun sein, dass sich im Unterrichtsgeschehen nicht all zu viel ändert, aber am Ende dann halt keine Note steht, sondern ein Text.

Man kann natürlich den Lernstand einer Schülerin oder eines Schülers in einem Text schon differenzierter ausdrücken, als mit einem „sehr gut“ oder „gut“. Dass das für die Lehrkraft einen gehörigen Mehraufwand bedeutet, liegt auf der Hand. Streng genommen müsste für jede Leistung, unter der bisher eine Note oder eine Punktzahl stand, eine verbale Beurteilung verfasst werden. Oder soll gar nicht oder ganz wenig beurteilt werden und alle lernen so vor sich hin? Übrigens schreiben viele Lehrkräfte gern und häufig bereits kurze Kommentare unter die Noten einer Klassenarbeit. „Prima, Jan-Luca, wenn du jetzt noch die Groß- und Kleinschreibung ein wenig übst, wird das richtig super!“ und dergleichen mehr.

Ich habe den Verdacht, dass es aber gar nicht nur darum geht differenzierte „verbale Beurteilungen“ zu schreiben, sondern eine klare Beurteilung zu vermeiden, um das Kind und die Eltern nicht mit Fakten zu belästigen. Ich mach mal ein Beispiel: Mathearbeit, Grundschule, herkömmlich: Ergebnis Note 4,5. Dazu würde man vielleicht noch kurz dazu schreiben, woran es lag. Eine verbale Beurteilung müsste ja nun mehr bieten und dies diagnostisch begleiten. Wetten, dass folgende Beurteilung unerwünscht wäre:

„Kim kann noch immer nicht im Zahlenraum bis 100 rechnen. Leider kommt sie häufig übermüdet in die Schule und hat große Schwierigkeiten sich auf das Unterrichtsgeschehen einzulassen. Ihre Konzentrationsspanne ist sehr kurz und sie lässt sich leicht ablenken, wobei sie auch immer wieder ihre Mitschüler stört. Ermahnungen werden entweder ignoriert oder führen zu noch aggressiverem Verhalten. Selten macht sie ihre Hausaufgaben. In den Übungsphasen in der Schule beschäftigt sie sich gern mit anderen Dingen. Hefte und Bücher fehlen oft.“

In Beurteilungsdeutsch hieße das so: „Kim schafft es noch nicht ganz den Zahlenraum bis 100 zu beherrschen. Sie braucht im Unterricht etwas Unterstützung, damit ihre Konzentration konstant bleiben kann. Ihre lebhafte und verhaltenskreative Art ist ein fester Bestandteil des Klassengeschehens. In Bezug auf Fleiß und Sorgfalt könnte sie noch etwas besser werden.“

Ja, immer schön positiv bis zur völligen Verschwafelung. Ob das Kind das versteht und wie die Texte bei Eltern überhaupt ankommen, besonders bei denen, die nicht ganz so bildungsnah sind, wie man sich das wünscht, bleibt fraglich.

„Am Ende wollen wir vergleichen, wie es um die Unterrichtsqualität und die Leistungen der Schüler bestellt ist.“ Meinte Frau Schopper im Inter- view vom 23.6.22.

Ja, man darf gespannt sein, wie und was da wann und von wem verglichen wird. Vielleicht ist dann auch wieder Schluss mit der Orchidee, quasi eingegangen am Nordfenster. Eines ist klar: irgendwann wird es in jeder Biographie Urteile geben, die ganz klar und deutlich sind. Sei es in der Sekundarstufe, in der Prüfung zur Mittleren Reife, im Abitur. Und falls womöglich in einigen Jahren nicht mehr dort, dann in der Ausbildung oder im Studium. Universitäten und Betriebe verlassen sich schon jetzt nicht mehr auf Schulabschlüsse oder die Benotung der Schulen, wie immer die aussehen mag, sondern kreieren ihre eigenen Aufnahmeprüfungen. Was für ein Armutszeugnis für ein Bildungssystem.

Andrea Friedrich, Vorsitzende Landesbezirk Nordbaden, Mitglied im VBE Landesvorstand