Religionsunterricht: Ausgedient!? Welchen gesellschaftlichen Beitrag leistet Kirche?

Zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts in einer zunehmend konfessionslosen Gesellschaft. Auf Einladung der Katholischen Akademie Freiburg, des Diözesanrats der Erzdiözese Freiburg, der Katholischen Hochschulgemeinde und dem Fachbereich Katholische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg nahm der VBE an einer Podiumsdiskussion zur Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Religionsunterrichts nachgegangen. Mit über 70 Teilnehmenden in Präsenz und 60 Personen, die sich online zugeschaltet hatten, war die Veranstaltung sehr gut besucht.

 

Die aktuellen Fragen zum Religionsunterricht wurden intensiv diskutiert:

Ist der Religionsunterricht in seiner heutigen Form noch zeitgemäß? Welchen gesellschaftlichen Mehrwert bietet er?

Gesprächspartnerinnen des VBE waren Nadyne Saint-Cast (Landtagsabgeordnete der Grünen), Susanne Orth (Erzbischöfliches Ordinariat Freiburg) und Isabel Schach (Religionslehrerin). 

Unsere VBE Positionen sind bei den Teilnehmenden auf sehr großes Interesse gestoßen: 

  • Der VBE setzt sich permanent auf allen Ebenen für den konfessionellen und den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht ein;
  • Und natürlich auch für diejenigen, die diesen unterrichten. Hierzu leisten die kirchlichen Lehrkräfte und natürlich alle Lehrkräfte mit dem Fach Religion einen wesentlichen Beitrag;
  • Der VBE setzt sich ebenfalls dafür ein, dass der Religionsunterricht aller maßgeblichen Konfessionen und Religionen, die die erforderlichen Strukturen mitbringen und sich auf die freiheitlich-demokratischen Grundwerte berufen, im schulischen System verankert ist; 
  • Dazu gehören z.B. islamischer RU, alevitischer oder sunnitischer Prägung, jüdischer RU. / Religionsunterricht anderer Konfessionen (verschiedenen Ausprägungen des Orthodoxen RU, altkatholischer RU);
  • Der VBE setzt sich für den Ausbau des Ethikunterrichts ab Klasse 1 ein.
Was leistet der Religionsunterricht – was soll er auch in Zukunft leisten?

1. Religion vermittelt Wissen über das Christentum, Religion im Allgemeinen und damit über unsere Kultur

Religion vermittelt Werte und Wissen, die für die Gesellschaft und die Menschen wertvoll sind, egal wie man persönlich zu den Glaubensinhalten steht; Religion vermittelt kulturelles Wissen, das beim Genuss von Literatur, Musik und Kunst hilft; Religion gehört zu unserer Erinnerungskultur; ein Blick auf die Kathedralen, Kirchen, Kapellen und Klöster, die unsere Städte und Landschaften prägen, oder ein Blick in den Kalender mit den Fest- und Feiertagen genügt, um zu sehen: Religion bleibt in unserem Leben auf vielerlei Weisen präsent; wir kommen auch als Reisende in keinem Land der Erde daran vorbei: überall begegnen wir der Religion; Religion gehört zu den Bereichen, wo Menschen verschiedener sozialen Schichten sich begegnen können; sie erfüllt damit auch einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft; Religion ist eine maßgebliche Quelle von Weltanschauungen, Werten und Denkweisen; Religion prägt nachhaltig die Fächer Philosophie und Ethik, die sich historisch aus ihr heraus entwickelt haben; immer wieder haben sich Denker mit dem Thema Religion auseinandergesetzt; selbst in der Abgrenzung von Religion und im Atheismus kommt man am Thema Religion nicht vorbei.

2. Religionsunterricht bietet einen Raum im schulischen Alltag, in dem persönliche Fragen gestellt werden können

Der Religionsunterricht ist der Ort im Bildungsplan, in dem Schülerinnen existenzielle Fragen vorbringen und für sich persönlich eine Antwort suchen können: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Wofür lebe ich? Was bedeutet für mich Krankheit, Not, Krieg, Tod? Auch Ängste, die Zukunft betreffend, können im Religionsunterricht thematisiert werden:  Wie bewerte ich neue Entwicklungen wie z. B. künstliche Intelligenz, Social Media? Wie weit lasse ich mich darauf ein, wie grenze ich mich ab? Während der Coronakrise war der Religionsunterricht ein wesentlicher Raum, sich über Ängste und Sinnfragen auszutauschen und Belastungen zu bearbeiten. 

3. Religionsunterricht hilft in der Entwicklung der eigenen Identität und Persönlichkeit

Der Religionsunterricht weckt und reflektiert die Fragen nach Gott, nach der Deutung der Welt und nach dem Sinn und Wert des Lebens in einer Weise, die zuhause nicht immer möglich ist; Schülerinnen und Schüler können sich im schulischen Religionsunterricht über diese Themen in einer Weise austauschen, die zuhause nicht überall möglich ist; Der Religionsunterricht macht Angebote zur Deutung von elementaren Lebenserfahrungen – wie Krankheit, Leid, Verlust und Tod, wie sie im Leben der Schülerinnen und Schüler vorkommen; Religiöse Fragen werden nicht gleich als Glaubenszweifel gedeutet oder tabuisiert; für manche Schülerinnen und Schüler bietet die Schule einen Raum an, wo sie sich trauen dürfen, religiöse Themen mit kompetenter Begleitung zu besprechen; Für Schülerinnen und Schüler bietet dieser schulische Raum auch eine Gelegenheit, von ihren Mitschülern andere religiöse Erfahrungen mitzubekommen; es ist eine Form des Begegnungslernens, die bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sowie bei der Akzeptanz und Toleranz des Anderen eine wesentliche Rolle für die Gesellschaft spielen kann; Übrigens schätzen auch Menschen mit Einwanderungshintergrund, nicht nur aus dem muslimischen Bereich, dass in Deutschland das Thema Religion in der Schule ernstgenommen wird, weil Religion in ihren Herkunftsländern selbstverständlich zum Leben dazugehört. 

Angesichts der herausragenden Bedeutung von Religion kann es also in keinem Fall darum gehen, dieses Thema ganz in die Privatsphäre zu verbannen und Religionsunterricht in der Schule abzuschaffen.

Allerdings müssen wir uns immer wieder neu die Frage stellen, wie dies am besten geschieht, wenn religiöses Wissen und religiöse Praxis kontinuierlich abnehmen bzw. religiöser Pluralismus stark zunimmt.

Neue Entwicklungen, auf die wir als VBE reagieren müssen:

Wenn wir die gegenwärtigen Entwicklungen betrachten, stellen wir Folgendes fest: Weniger als 50% der Deutschen sind noch Mitglied einer christlichen Kirche; Tendenz abnehmend; Zirka 10% der Kinder sind Muslime, Tendenz steigend; an manchen Orten erreicht dieser Prozentsatz heute schon Spitzenwerte von über 50%; es stellt sich gleichzeitig als schwierig, ja unmöglich heraus, flächendeckend islamischen Religionsunterricht anzubieten; ein kurzer Blick auf die Anzahl der Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter für islamischen Religionsunterricht zeigt klar und deutlich, dass dieses Problem selbst innerhalb der nächsten 10 Jahre nicht gelöst werden kann; Die Zahl der Religions- und Konfessionslosen liegt inzwischen bei zirka 40%, also fast der Hälfte der Gesellschaft; da können wir nicht einfach wegschauen; Gleichzeitig haben wir festgehalten, dass wir in einer Welt leben, in der Religion weiterhin eine sehr große Rolle spielt; demographisch sieht es sogar danach aus, dass die Bedeutung von Religion aus weltweiter Perspektive in den nächsten Jahrzehnten weiter steigen wird.

Daher sollten wir als VBE mit den Kirchen, mit den Vertretern der Religionen, mit Politikerinnen und Politikern und mit unseren Lehrerinnen und Lehrern proaktiv nach neuen Formen und Formaten suchen, die das Grundsätzliche erhalten und die Unterstützung der Gesellschaft viel langfristiger sicherstellen.

Hier einige Fragen, über die aus der Sicht des VBE nachgedacht werden muss:

  • Wie kann in einer Gesellschaft individualisierter religiöser und säkularer Weltsichten eine gemeinsame Grundlage interreligiöser Bildung aussehen, auf die sich die verschiedensten Vertreterinnen aus Philosophie, Pädagogik, Theologie und Religionswissenschaft beziehen könnten?
  • Wie könnten neue Formate, wie z.B. fächerkooperierendes Begegnungslernen geschaffen werden: Religionsunterrichts verschiedener Religionen könnten zusammen mit z.B. Ethik, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Kunst demokratische Dialogkompetenzen anbahnen – eine Kompetenz, die unsere Gesellschaft dringend benötigt! 
  • Anstatt sich nur auf die eventuellen Probleme zu fokussieren, könnte man auch produktiv überlegen: wie kann die Religion für alle Interessierten zu einer Stütze werden? Wie können wir gegenseitig an den Festen der jeweils anderen Religion wohlwollend oder gar aktiv partizipieren?
  • Wie könnten multireligiöse Feiern künftig an unseren Schulen gefeiert werden? Besonders auch dort, wo es eine entsprechende multireligiöse Zusammensetzung der Schülerschaft gibt. 
  • Wie kann Wissen über Religion gefördert werden, ohne welches Kunst und Musik nicht ausreichend verstanden werden kann? Religion sollte Teil einer umfassenden Bildung bzw. Allgemeinbildung bleiben.
  • Wie kann Verständnis und Sensibilität für Religion gefördert werden, wenn Religion aus weltpolitischer Perspektive nicht an Bedeutung abnimmt, sondern eher noch zunimmt? 

Für den VBE ist klar: Religion ist nicht nur eine Privatsache und gehört daher auch weiterhin in die Mitte der Gesellschaft und damit in unser Bildungssystem. Allerdings müssen wir auch den Satz beherzigen, der Goethe zugeschrieben wird: „Wenn wir bewahren wollen, was wir haben, müssen wir vieles ändern!“ 

Nicola Heckner, Stv. VBE-Landesvorsitzende, Leitung Referat Schule und Religion