VBE: Ist die Rückkehr zu G9 eine gute Idee?

Rückkehr zu G9

Elternengagement ist prinzipiell eine gute Sache. Damit ist nicht unbedingt das Kuchenbacken zum Schulfest gemeint, sondern auch sachliches Engagement, das gerne über die eigene Schule hinausgehen kann. Die Thematik Rückkehr zum G9 ist rund 20 Jahre nach der Einführung des G8 immer noch ein Thema und durch die Elterninitiative „G9 jetzt!“ hat das ganze Geschehen eine neue Dynamik entwickelt. Was will diese Initiative? Sie fordert ein zeitgemäß reformiertes G9 an den allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg als Regelweg – mit der Möglichkeit eines G8 als „Turbo-Zug“ in Wahlform. Baden-Württemberg sei laut Auskunft der Initiative das letzte westdeutsche Flächenbundesland, in dem an der 2004 eingeführten G8-Reform festgehalten würde – alle anderen Bundesländer hätten nach anhaltender Kritik die Änderungen teilweise oder ganz wieder zurückgenommen.

Bei genauerer Betrachtung der bundesdeutschen Bildungslandschaft wird aber schnell klar, dass dem nicht so ist. In der Tat gibt es die Möglichkeit eines G8 in fast allen Bundesländern, außer in Bayern und in Niedersachsen. Dort gibt es ausschließlich das G9. Die Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich offen. In den meisten Bundesländern hingegen gibt es das G9 nicht unbedingt an den Gymnasien, sondern an anderen Schularten. (Siehe Schaubild.)

Die Situation gestaltet sich also an den meisten Bundesländern so oder ähnlich zum Status quo in Baden-Württemberg. Denn auch bei uns gibt es das G9, sei es an den Versuchsschulen im gymnasialen Bereich oder über die Gemeinschaftsschulen mit gymnasialer Oberstufe und selbstverständlich auch über den bewährten Weg Realschule, Werkrealschule oder Gemeinschaftsschule mit Realschulabschluss/mittlerem Bildungsabschluss und berufliches Gymnasium. Vereinfacht könnte man unterstellen, dass da unser Bildungssystem wohl offensichtlich nicht so ganz verstanden wurde oder jemand meint, dass nur das Gymnasium eine adäquate Schulart darstellen würde.

Wie sehen denn eigentlich die Fakten aus?

Die flächendeckende Einführung eines G9 würde das Land ungefähr 200 Mio. Euro kosten. Diese ungefähre Summe erstreckt sich jedoch nur auf die Personalkosten. Nicht eingeschlossen sind darin Kosten für die Er- weiterung der Schulgebäude, denn irgendwo müsste ja die zusätzliche Jahrgangsstufe wohl auch unterrichtet werden. Bei den notorischen Raumproblemen an allen Schulen (dies dürfte bei Gymnasien kaum anders sein) käme hier ein nicht unwesentlicher Betrag zusammen. Grob überschlägig könnte man auch sagen, dass man an den rund 376 öffentlichen Gymnasien sicher rund 1200 zusätzliche Räume erstellen müsste. Bei den gegenwärtigen Baukosten käme man also folglich auf rund 300 Mio. Euro zusätzlich hierfür. Alles in allem wäre das Projekt G9 so teuer wie kein anderes Projekt des Kultusministeriums. 500 Mio. Euro sind übrigens ein gutes Stück des Haushalts des Kultusministeriums. Schon alleine vor diesem Hintergrund zu behaupten, dies habe keine Auswirkungen auf andere Bereiche des Schulwesens, dürfte folglich kaum der Realität entsprechen. Die- se 500 Mio. Euro kämen somit den 264.000 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zugute. Bei einer Gesamtschülerzahl von rund 1.000.000 Schülerinnen und Schülern an den allgemeinbildenden Schulen insgesamt ist eine exorbitant hohe zusätzliche Investition (abgesehen von dem Batzen, der ohnehin schon in die Gymnasien fließt) in gerade mal etwa 26 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Davon könnten andere Schularten wohl nur träumen. Die rund 400.000 Grundschülerinnen und Grundschüler, die an den 2.322 staatlichen Grundschulen unterrichtet werden, kämen jedenfalls mit weniger als der Hälfte dieses Budgets endlich zu flächendeckendem Förderunterricht und Differenzierungsstunden, die dort wohl dringender gebraucht werden als irgendwo anders. Denn keine Schulart hat eine solch heterogene Schülerschaft und leistet eine solch grundlegende Arbeit, von der alle auf dieser Schulart aufbauenden Schularten profitieren. Wie nötig diese in Baden-Württemberg wären, wird uns leider in jeder Bildungsstudie schmerzlich bewiesen. Nicht einmal die Hälfte der Kosten für ein G9 würde es auch kosten, alle Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen sofort gerecht nach A13 zu bezahlen. Für beides sei übrigens kein Geld da, meint man zumindest in Stuttgart. Genauso wenig wie für eine Senkung des Deputats der Grundschullehrkräfte. Keine andere Schulart hat zudem eine derart hohe Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte.

Wie sieht es an den anderen öffentlichen Sekundarschularten aus?

Im Land gibt es rund 230 Haupt-/Werkrealschulen, an denen ca. 41.000 Schülerinnen und Schüler (SuS) unterrichtet werden. Bei den Realschulen sind es immerhin mehr als 190.000 SuS in 400 Schulen. Gemeinschaftsschulen (ohne gymnasiale Oberstufe) gibt es ungefähr 300 mit 89.000 SuS. Dazu kommen noch einmal 9 GMSen (mit gymnasialer Oberstufe), in denen zusätzlich rund 945 SuS unterrichtet werden. Zusammengenommen sind dies also rund 320.000 SuS außerhalb der Gymnasien, also ungefähr 56 Prozent der Sekundar-SuS besuchen somit nicht das Gymnasium. Hätte eine Öffnung nach G9 für diese eine Auswirkung? Bestimmt erhebliche. Denn seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung gibt es immer noch einen erheblichen Prozentsatz von Eltern, die es an einer vermeintlich besseren Schulart einfach mal probieren wollen. Was dies für viele SuS bedeutet, dürfte jedem klar sein, der an einer Sekundarschulart unterrichtet. Das Probieren endet leider allzu oft in einem Scheitern, was zur kontinuierlichen Herausforderung aufseiten aufnehmender Schularten führt, diese SuS kontinuierlich ab spätestens Klassenstufe 6 zu integrieren. Von der Erfahrung des Scheiterns und des Schulfrusts aufseiten der Kinder/Jugendlichen ganz zu schweigen. Auch hier wäre die Botschaft eines G9 vermutlich fatal. Das Gymnasium wird „leichter“, warum also nicht noch mehr probieren. Zudem wäre auch zu vermuten, dass sowohl den Realschulen als auch den Gemeinschaftsschulen ein Großteil der leistungsstarken SuS in Richtung Gymnasium und G9 verloren gingen. Vor diesem Hintergrund sind Befürchtungen, dass sowohl die Gemeinschaftsschulen als auch die Realschulen und letztlich auch die Werkrealschulen zu einer Art „schulischen Resterampe“ verkommen könnten, durchaus ein realistisches Szenario. Um dies zu vermeiden, wäre es dann auch nur konsequent, wenn man am G9 dann, ähnlich wie an den Realschulen einen G-Zug, auch einen M-Zug (gerne auch integrativ) mit dem Ziel des Realschulabschlusses einrichten würde. So würden weder Gemeinschaftsschulen noch Realschulen permanent als schulisches Auffangbecken agieren müssen. Das G9 dürfte auch den Trend zur Akademisierung weiter vorantreiben. Gleichzeitig aber beklagen die Industrie und das Handwerk einen eklatanten Mangel an Fachkräften. Für eine solide duale Ausbildung mit den vielfältigen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten dort braucht es in eher wenigen Fällen ein Abitur (weder aus G8 noch aus G9).

Von links: Dr. Andrea Gräfin von Hohenthal (Psychologin und Therapeutin), Dirk Lederle, Alexander Becker (MdL, bildungs- politischer Sprecher der CDU- Fraktion), Dr. Patrick Rapp (MdL, Staatssekretär im Wirtschafts- ministerium), Hans-Joachim Kraus (Vertreter der Initiative „G9 jetzt!“).

Fazit

Wer A sagt, muss auch B sagen. Es nützt nichts, plakativ Dinge zu fordern. Diese müssen absolut konsequent bis zu Ende gedacht werden. Eine Wiedereinführung von G9 hat ohne Zweifel Auswirkungen auf die komplette Bildungslandschaft und auch auf alle anderen Schularten. Der finanzielle Spielraum des Bildungshaushaltes würde dadurch sehr eingeengt werden. Wichtige andere Projekte, wie ein kostenfreies letztes Kindergartenjahr zur Stärkung der frühkindlichen Bildung, die Sprachförderung an allen Schulen, Poolstunden für Grundschulen, die Bezahlung von Grundschullehrkräften nach A13, die Entlastung der Kollegien durch mehr Anrechnungsstunden, multiprofessionelle Teams oder Verwaltungsassistenzen für Schulleitungen, dürften damit endgültig zu den Akten gelegt werden. Wer mit dem Grundgedanken der Bildungsgerechtigkeit antritt, sorgt dafür sicher nicht, indem man Eliten fördert. Zur Realisierung einer höheren Bildungsgerechtigkeit braucht es zuallererst ein solides Fundament für die Bildung. Und das wird bekanntlich weder am G8 noch am G9 gelegt, sondern in den Grundschulen. Hiervon würden alle auf die Grundschulen aufbauenden Schularten profitieren und damit auch alle über 1 Mio. SuS in Baden-Württemberg. Wer mehr Bildungsgerechtigkeit will, muss dafür Sorge tragen, dass an allen Schulen multiprofessionelle Teams zur Unterstützung fest verortet werden und dass schulische Ressourcen genau dort ankommen, wo sie auch dringend gebraucht werden. Es braucht Lehrkräfte und anderes schulisches Personal, das sich um SuS kümmern kann und Kindern/ Jugendlichen Halt und Orientierung gibt.
Das G9 existiert in Baden-Württemberg bereits flächendeckend. Zu finden ist es über die Gemeinschaftsschulen, Werkrealschulen oder Realschulen in Verbindung mit den beruflichen Gymnasien, wenn man dies auch sehen will.

Dirk Lederle, Stv. Landesvorsitzender