„Wir sehen durchaus Fortschritte in der Unterrichtsversorgung. Und dennoch: Wenn bereits in der dritten Schulwoche rund die Hälfte der befragten Schulen mit Unterrichtsausfällen kämpft, dann sind wir von einer befriedeten Personalsituation noch weit entfernt. Einem Aufwärtstrend an der Grundschule und in der Sekundarstufe 1 steht zudem eine dramatische Abwärtsspirale am SBBZ gegenüber“, konstatiert der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand angesichts aktueller Studienergebnisse.
In einer Umfrage, die der VBE an den Grundschulen, in der Sekundarstufe 1 und an den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) aufgelegt hat, wurden jeweils die Schulleitungen nach der aktuellen Unterrichtssituation an der eigenen Schule gefragt. Insgesamt 1.053 Schulen aus Baden-Württemberg haben sich in der dritten Unterrichtswoche vom 23. bis 27. September 2024 daran beteiligt.
Unterrichtsversorgung verbessert sich, bleibt aber lückenhaft
Die Schulleitungen wurden gefragt, ob die eigene Schule zu 100 Prozent oder besser mit Lehrkräften versorgt ist. Dies trifft aktuell nur auf 30 Prozent der befragten Schulen zu. Im Vergleich zu früheren Erhebungen zeigt sich allerdings ein Aufwärtstrend: Letztes Jahr wiesen nur 25 Prozent und vorletztes Jahr nur 21 Prozent der befragten Schulen eine Vollversorgung auf.
Der positive Trend spiegelt sich an den Grundschulen und in der Sekundarstufe 1 wider, aber nicht am SBBZ: Der Anteil der vollversorgten Schulen klettert an der Grundschule von 29 Prozent im Jahr 2022 auf jetzt 38 Prozent und in der Sekundarstufe 1 im gleichen Zeitraum von 10 Prozent auf 25 Prozent. Von den befragten SBBZ berichten wie schon im Jahr 2022 auch dieses Jahr nur 3 Prozent von einer Vollversorgung.
Auf der anderen Seite geben insgesamt 70 Prozent aller abgefragten Schulen eine personelle Unterversorgung an. Dies betrifft sechs von zehn Grundschulen, drei Viertel der Sek-1-Schulen und fast alle SBBZ. Jede vierte Schule fällt sogar unter die kritische 90-Prozent-Marke, kämpft also mit Personallücken von über zehn Prozent. Gerhard Brand: „Die Angaben führen uns vor Augen, wie dünn die Personaldecke nach wie vor ist. Um Ausfälle und Fehlzeiten durch Krankheiten, Schwangerschaften oder Fortbildungen kompensieren zu können, müssten eigentlich alle Schulen mit einer Personalreserve von 10 bis 20 Prozent ins Schuljahr gehen. Tatsächlich kämpfen aber bereits in der dritten Schulwoche viele Schulen mit Lücken von 10 bis 20 Prozent. Oder noch mit noch größeren, wie am Beispiel der SBBZ zu sehen ist.“
SBBZ rutscht in Abwärtsspirale
An knapp der Hälfte (47 Prozent) aller abgefragten SBBZ fehlt momentan 20 bis 40 Prozent des Lehrpersonals. Das ist eine nochmalige Verschlechterung zu letztem Schuljahr, als dies bereits auf 37 Prozent der untersuchten SBBZ zutraf. „Es wird immer von Bildungsgerechtigkeit gesprochen, aber die Praxis zeigt, dass bei den Schwächsten in der Bildungslandschaft maximal gespart wurde“, erklärt der VBE-Vorsitzende.
Er fügt hinzu: „Die SBBZ kämpfen auf der einen Seite mit ansteigenden Schülerzahlen. Dahinter verbirgt sich eine anwachsende Zahl von Kindern mit diagnostiziertem Förderbedarf, insbesondere im Autismus-Spektrum. Gerade diese Kinder benötigen dringend einen hohen Personalschlüssel. Stattdessen kommen sie in ein System, das an allen Ecken knirscht und knarrt. Auf der anderen Seite kämpfen die SBBZ mit der Abordnung von Lehrkräften an die Regelschulen. Sie zerreißen sich geradezu zwischen ihrem eigenen Betrieb und dem Bedienen der Inklusion. Der VBE sieht das Land in der Pflicht, beide Bereiche, die Beschulung am SBBZ und die Inklusion stärker aufzustellen. Hierzu muss es gelingen, deutlich mehr qualifiziertes Personal in der Sonderpädagogik auszubilden.“
Unterrichtsbetrieb nur eingeschränkt möglich
Die Schulleitungen wurden gefragt, ob sie aktuell zumindest den Unterricht in den Pflichtfächern (Regelbetrieb) abdecken können. Dies verneinen Schulleitungen an 17 Prozent der Grundschulen, 38 Prozent der Sek-1-Schulen und 57 Prozent der SBBZ.
Weiter wurden die Schulleitungen gefragt, welche unterrichtlichen Notmaßnahmen sie aktuell an der eigenen Schule ergreifen müssen, um Personallücken zu kompensieren:
- An jeder zweiten Schule müssen die Lehrkräfte bereits Mehrarbeit leisten.
- An knapp der Hälfte (45 Prozent) aller abgefragten Schulen muss bereits Unterricht ausfallen. Dies betrifft rund vier von zehn Grundschulen, jedes zweite SBBZ und sechs von zehn Schulen in der Sekundarstufe 1.
- Vier von zehn Schulen müssen außerdem Klassen zusammenlegen.
- Auf den weiteren Plätzen folgen der Vertretungsunterricht durch Personen ohne Lehramtsausbildung, der Einsatz von Pensionären und Studenten sowie das Abhalten von Stillunterricht.
Gerhard Brand: „Der Stresspegel ist von Beginn an hoch. Wenn bereits in der dritten Schulwoche das halbe Lehrpersonal überlastet ist, Unterrichtsstunden ausfallen und Klassen zusammengelegt werden müssen, dann brauchen wir uns über das Verfehlen von Mindeststandards nicht mehr wundern. Gleichzeitig gefährdet die Unterrichtssituation aber auch die Gesundheit der Lehrkräfte, die durch eine höhere Arbeitslast den versteckten Personalmangel kaschieren müssen.“
Schulleitungen fordern Konzentration aufs Kerngeschäft
Angesichts der aktuellen Arbeitsbedingungen fordern schulartübergreifend rund zwei Drittel der Schulleitungen mehr Wertschätzung seitens Politik und Schulverwaltung sowie eine spürbare Entlastung der Lehrkräfte etwa durch Anrechnungsstunden. Eine große Mehrheit von rund 90 Prozent formuliert außerdem einen klaren Wunsch: Die Konzentration aufs Kerngeschäft. Weitere rund 60 Prozent fordern zudem den Verzicht auf bildungspolitische Großprojekte. Weniger Unterrichtsfächer oder die Kürzung einzelner Fächer erachtet dagegen nur eine Minderheit als sinnvoll.
Gerhard Brand: „Die Beschäftigten an den Schulen sehnen sich vor allem nach mehr Beständigkeit. Sie wünschen sich mehr Zeit für Unterricht und sehen wenig Spielraum, um weitere Bildungsbaustellen zu schultern.“
In diesem Sinne spricht sich der VBE für eine deutliche Aufstockung der Krankheitsreserve und eine Versorgung der Schulen mit mindestens 110 Prozent aus. Um dies zu erreichen, tritt der VBE für folgende Punkte ein:
- Einen weiteren Ausbau der Studienkapazitäten, insbesondere in der Sonderpädagogik und den Wegfall des NC.
- Gleichzeitig fordern wir mehr Wertschätzung für die an Schulen geleistete Arbeit und die gleiche Bezahlung aller Lehrkräfte nach A 13.
- Eine spürbare Erhöhung des allgemeinen Entlastungskontingents und die Anpassung der Anrechnungsstunden an den Umfang der zu bedienenden Arbeitsfelder.
Weitere Infos
Die Umfrage „Unterrichtsabdeckung in Baden-Württemberg“ wurde vom VBE Baden-Württemberg als Online-Umfrage in einem nicht wissenschaftlichen Kontext durchgeführt. Teilgenommen haben Schulleitungen an 636 Grundschulen, 251 Schulen der Sekundarstufe 1 und 166 Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren. Detaillierte Ergebnisse sind nachfolgend im Anhang dokumentiert.