VBE-Umfrage zeigt Missstände an Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) auf

„Fehlendes Fachpersonal in Lehre und Pflege, hohe Krankenstände infolge permanenter Überlastung, zu viel Bürokratie und eine missglückte Umsetzung der Inklusion gefährden die Beschulung von körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern. Ein hart errungenes Bildungsrecht steht auf dem Spiel. Die Ernüchterung in der Sonderpädagogik ist entsprechend groß“, fasst der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand die Ergebnisse einer Umfrage unter Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen zusammen.

 

Vom 19. bis 23. Februar 2024 hat der VBE Baden-Württemberg 453 Lehrkräfte am Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) und in der Inklusion zu ihrer aktuellen Arbeitssituation befragt.

Geteilte Stimmungslage

Während die Hälfte der Befragten (53 Prozent) von einer guten Stimmung des eigenen Kollegiums am SBBZ berichtet, zeichnet die andere Hälfte (47 Prozent) ein schlechtes Stimmungsbild.

Brand: „In den Antworten spiegelt sich bereits die ganze Ambivalenz der Arbeit am SBBZ wider. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sehen in der Arbeit mit förderbedürftigen Kindern eine hohe Sinnhaftigkeit und üben ihren Beruf grundsätzlich gerne aus. Gleichzeitig sehen sie sich jedoch mit vielfältigen Problemlagen und einer drastisch gestiegenen Arbeitsleistung konfrontiert“.

Arbeitsleistung am Limit

Fast alle Befragten (98 Prozent) schätzen ihre aktuelle Arbeitsbelastung als hoch (38 Prozent) bis sehr hoch (60 Prozent) ein. „Derart drastische Werte führen uns unmissverständlich vor Augen, wie groß der Handlungsbedarf im Bereich der Sonderpädagogik ist“, erklärt Brand.

Schwierige Arbeitsbedingungen

Danach gefragt, was sie bei ihrer Arbeit besonders belastet und beschäftigt, nennen 78 Prozent der Befragten eine wachsende Anzahl von Kindern im Autismus-Spektrum. Auf den weiteren Plätzen folgen Mehrarbeit und Vertretung (71 Prozent), Heterogenität in der Schülerschaft (69 Prozent), gesellschaftliche Entwicklungen und Erwartungen (58 Prozent), große Klassen (52 Prozent) und eine überproportionale Belastung bei Teilzeit (48 Prozent). 166 Personen nutzen außerdem die offene Antwortmöglichkeit, sie nennen besonders häufig: Fehlendes Fachpersonal, hoher Krankenstand und keine qualifizierte Krankheitsreserve, keine Doppelbesetzung in den Klassen, immer mehr unausgebildete Quereinsteiger und eine überhandnehmende Bürokratisierung ihrer Arbeit.

Brand: „Kinder im Autismus-Spektrum benötigen dringend einen höheren Personalschlüssel. Dieser ist aber an den wenigsten SBBZen gegeben. Im Gegenteil: Die meisten SBBZen in Baden-Württemberg weisen eine Lehrkräfteversorgung von nur 60 bis 90 Prozent auf und sind damit chronisch unterversorgt. Die eingesetzten Lehrkräfte müssen gleichzeitig die Personallöcher stopfen und eine zunehmend herausfordernde Schülerschaft unterrichten. So entsteht eine permanente Überlastungslage, die zu erhöhten Krankenständen des Personals führt. Eine qualifizierte Krankheitsreserve steht nicht zur Verfügung.“ Er verweist auf eine VBE-Umfrage zur Lehrkräfteversorgung, die zu Beginn des Schuljahres aufgezeigt hat, dass sieben von zehn SBBZen in Baden-Württemberg nur mit 60 bis 90 Prozent versorgt sind.

Häufiges Zusammenlegen von Klassen

Fast zwei Drittel der Befragten (64 Prozent) berichten, dass der Ausfall von Kolleginnen und Kollegen an der eigenen Schule durch das Zusammenlegen von Klassen gelöst wird. 38 Prozent der Befragten sagen außerdem, dass Unterricht ausfallen muss. Brand: „Die Folgen dieser Maßnahmen wiegen schwer. An immer mehr SBBZen kann der Unterricht nicht mehr eingelöst werden – ein hart errungenes Stück Bildungsrecht droht verloren zu gehen.“

Mehr qualifiziertes Personal und weniger Bürokratie gewünscht

Für eine Entlastung fordern 86 Prozent der Befragten eine echte Krankheitsreserve und eine bessere Grundversorgung mit Lehrkräften. An zweiter Stelle wünschen sich 72 Prozent eine Entbürokratisierung. Rund ein Viertel der Befragten (23 Prozent) fordert außerdem eine bessere Ausstattung in der Inklusion. Und ein Fünftel (19 Prozent) der befragten Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen will unter den aktuellen Umständen in der Inklusion erst gar nicht zum Einsatz kommen.

Missglückte Umsetzung der Inklusion

Aus den weiteren Antworten zur Inklusion geht zunächst hervor, dass sechs von zehn Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen in der Inklusion eingesetzt werden. Acht von zehn dieser in der Inklusion eingesetzten Lehrkräfte geben an, dass sie mit der Umsetzung der Inklusion unzufrieden sind. „Damit zeigt sich, dass die derzeitige Umsetzung der Inklusion aus Sicht der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen weitgehend misslungen ist. Dies wundert nicht, viele von ihnen werden gegen ihren Willen eingesetzt. Außerdem fehlt es an Teamstunden für die unerlässlichen Absprachen und Organisationsprozesse des Inklusionstandem aus SBBZ- und Regelschullehrkraft. Ebenso wie eine Begrenzung der Schuldienstorte, an denen die Inklusionskräfte eingesetzt werden, sowie eine faire Anrechnung der Dienstfahrten“, erklärt der VBE-Vorsitzende.

Fazit

Lediglich 8 der 453 befragten Lehrkräfte (zwei Prozent) beurteilen die bildungspolitische Arbeit der Landesregierung als gut oder sehr gut. Dagegen bewertet jede zweite Lehrkraft am SBBZ und in der Inklusion (50 Prozent) die Bildungspolitik des Landes als mangelhaft bis ungenügend. „Die Landesregierung hat es sich in ihrem Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, die Qualität der Inklusion und sonderpädagogischen Bildung voranbringen zu wollen. Es zeigt sich, dass sie mit diesem Ziel aus Sicht der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen krachend gescheitert ist“, so Brand.

Ungeachtet aller Probleme würden sechs von zehn der befragten Lehrkräfte (63 Prozent) ihren Beruf weiterempfehlen. „Dies zeigt uns, dass Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen für ihren Beruf brennen. Sie haben diesen ganz bewusst gewählt, weil sie mit körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern arbeiten und diese fördern wollen. Und genau das, muss man sie auch tun lassen. Man muss sie entlasten von Bürokratie, Verwaltungsarbeiten und Doppelbelastungen und man muss mehr qualifiziertes Personal in die Klassen bringen.“

Der VBE fordert
  • Weiterer Ausbau der Studienkapazitäten, Wegfall des NC im Sonderpädagogik-Studium, bessere Aufstiegsmöglichkeiten für Fachlehrkräfte, umfassende Vorabqualifikation für Quereinsteiger.
  • Entlastung durch Aufbau einer qualifizierten Krankheitsreserve und durchgehende Doppelbesetzungen in allen Klassen, wo es die Schülerschaft erfordert. Weitere Entlastung durch angemessene Anrechnungen für Teambesprechungen, Diagnostik, Dokumentation, Beratung und Elterngespräche. Außerdem: Möglichkeit der Teilzeit unter 75 Prozent, externe IT-Administratoren sowie Abbau von Bürokratie und Verwaltungsvorschriften.
  • Fokus auf die veränderte Schülerschaft: Mehr qualifiziertes Personal für die wachsende Zahl von Kindern im Autismus-Spektrum. Schulbegleitung in allen Förderschwerpunkten. Wo erforderlich, muss der Einsatz weiterer Fachkräfte möglich sein: Psychologen, medizinische Fachkräfte, Logopäden, Ergotherapeuten und Physiotherapeuten.
  • Dringend notwendig: Evaluation der Ergebnisse der bisherigen inklusiven Beschulung.
Weitere Infos

Der VBE hat die Umfrage im Rahmen einer Online-Pressekonferenz vorgestellt. Den Redetext des Landesvorsitzenden finden Sie hier, die Ergebnis-Charts können Sie hier einsehen. Infos zur Sonderpädagogischen Bildung in Baden-Württemberg finden außerdem auf der Seite des Kultusminsiteriums. Statistiken zur Entwicklung der Schüerlzahlen finden Sie auf den Seiten des Statistischen Landesamtes.