Völlig losgelöst von der Schule

„Gründlich durchgecheckt steht sie da und wartet auf den Start, alles klar. Experten streiten sich um ein paar Daten, die Crew hat da noch ein paar Fragen. Doch der Countdown läuft“ )*Jetzt geht´s los. „Sprachfit- Programm“ „Startchancen-Programm“, Juniorklassen, Sprachkitas. Dazu Schulreifes Kind und Rückenwind. Habe ich was vergessen? Man verliert den Überblick bei all den „Wir machen uns auf den Weg“ Entwicklungen. Aber geht es auch wirklich los? Seit Jahren, ach, was sage ich, Jahrzehnten sind ein Förderkonzept und Maßnahmen zur frühkindlichen Bildung überfällig. Sprachprobleme wurden seit den frühen Einwanderungsjahren ignoriert. Vor Monaten verkündete die baden-württembergische Kultusministerin Frau Schopper endlich, dass an Plänen, diese Maßnahmen anzugehen, in ihrem Ministerium vordringlich gearbeitet würde. Im Februar 2024 trat sie mit der Forderung und der Absicht, nur noch schulreife Kinder einzuschulen an die Öffentlichkeit. 

Die Bildungslandschaft in Baden-Württemberg, besonders Lehrkräfte und Schulleitungen, Bildungsforscher/innen und Menschen aus der Bildungspolitik atmeten erleichtert auf. Die frühkindliche Sprachförderung sei wichtig, so die Ministerin. „Ich will keine Kinder mehr einschulen, die nicht schulreif sind“. (RNZ 13. Februar 2024) „Mit viereinhalb Jahren testen wir Kinder im Rahmen der Einschulungsuntersuchung auf ihre sprachliche Entwicklung und knüpfen daran ein verbindliches Netz zur individuellen Unterstützung für alle, die Bedarf haben.“ So sagte die Ministerin im gleichen Interview. Das klang gut. Frau Ministerin Schopper ging davon aus, dass etwa 30% der Viereinhalbjährigen einen Förderbedarf haben. Das ist beträchtlich. Lehrkräfte wissen bzw. haben erfahren müssen, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dieser Rückstand während der Schullaufbahn nur schwer, wenn nicht sogar gar nicht mehr aufholen lässt. 

Natürlich ging niemand davon aus, dass es umgehend oder zumindest zeitnah mit der frühkindlichen Förderung losgehen würde. Dass noch Abstimmungen für Sprachstandstests und Einführung von Juniorklassen notwendig seien, erläuterte die Ministerin glaubhaft. Und Lehrkräfte an den GHWRGS Schulen sind ja geduldig.  Auftretende Fragen von Lehrkräften und Verbänden konnten bisher nicht beantwortet werden. So sollen etwa Grundschulförderklassen ab dem Schuljahr 2026 / 2027 durch die Juniorklassen abgelöst und flächendeckend eingerichtet werden. Das ist natürlich eine gute Idee, aber woher soll das zusätzliche Personal, das sich mit einer zielgerichteten Förderung auskennt, kommen?

Das neue Förderkonzept „Sprachfit“ soll der wichtigste Beitrag der GRÜN-SCHWARZEN Regierung in der Bildungspolitik sein oder hätte es zumindest sein können. Der Ballon ist Anfang Juli geplatzt: „Sprachfit“ wird erst in Jahren greifen. Man spricht grob von vier Jahren, um genau zu sein, aber was heißt das schon. Bei der Verkündung der Aufschieberitis gibt es seitens der Kultusbehörde zumindest öffentlich keine Erklärung, kein Bedauern, keine Entschuldigung, keine Peinlichkeit.

Bis zu den nächsten Wahlen wird das Konzept also nicht einmal ansatzweise umgesetzt sein und wer nach den Landtagswahlen 2026 die Geschicke im Kultusministerium lenken wird und was dann als wichtiges Projekt gelten wird, steht in den Sternen.

Völlig losgelöst von der Schule, schwebt das Kumi, völlig schwerelos.

„Effektivität bestimmt das Handeln, man verlässt sich blind auf den andern. Jeder weiß genau, was von ihm abhängt, jeder ist im Stress“.

Als Übergangsmaßnahmen müssen nun die „alten“ Rezepte herhalten, die nicht die schlechtesten sind, aber wie bei neuen Regierungen üblich, so sie nicht von ihnen selbst medienwirksam ersonnen wurden, bisher eher ein Randdasein fristeten. 

„Schulreifes Kind“ ein Konzept, das seit 2006 existiert und von Grundschulexperten schon immer als gut befunden wurde, kommt so zu neuer Blüte. Man lässt das bewährte Konzept weiter an rund 240 Modellschulen mit 450 Gruppen weiterlaufen, was ja nicht schlecht ist, denn es ist besser als nichts. Es stehen 8,5 Millionen Euro dafür zur Verfügung. Bis 2027/28 ist eine Erhöhung auf 4299 Gruppen geplant. Die dann obligatorisch werdende Sprachförderung soll 4 Wochenstunden betragen, andere Fördermaßnahmen, etwa motorische werden nicht berücksichtigt, bzw. können in den vier Stunden untergebracht werden. (Quelle RNZ 4.7.24) Welche finanziellen Mittel bis dahin bereitgestellt werden, ist noch nicht klar. Jetzt einatmen! Das werden die laufenden Haushaltsberatungen (Land) ergeben. Ausatmen! „Rückenwind“ ist zumindest bis Dezember 2024 finanziell gesichert. Falls sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Programm, denen bisher keine weitere Zusage gemacht werden kann, anderweitig bewerben; wer könnte es ihnen verdenken?

Mein persönliches Haushaltsberatungsbildungsphrasenranking: 1. Investitionen in die Bildung sind Investitionen in die Zukunft. 2. Eine Gesellschaft kann nur so sozial sein, wie sie Bildungschancen für jeden ermöglicht.   3. Allen Kindern und Jugendlichen faire Bildungschancen zu eröffnen, ist eine der Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Jaja. Aber bitte kostenneutral.

 Völlig losgelöst von der Schule, schwebt das Kumi, völlig schwerelos.

„Die Erdanziehungskraft ist überwunden, alles läuft perfekt, schon seit Stunden. Wissenschaftliche Experimente. „Doch was nützen die am Ende?“. 

Bliebe als letzte Hoffnung noch das „Startchancen-Programm“, das der Bund zusammen mit dem  Land auflegt. Insgesamt werden dafür 2,6 Mrd Euro veranschlagt, verteilt auf 10 Jahre, wobei sich mit je 1,3 Milliarden Euro der Bund und das Land Baden-Württemberg gleich stark beteiligen.  Man spricht von einem Paradigmenwechsel, weil die Mittel ziel- und bedarfsgenau an die Schulen fließen sollen, wo Unterstützung am nötigsten ist. Die Voraussetzung für die Teilnahme der Schulen am bundesweit anlaufenden Programm ist rein an den Sozialindex der Schule gebunden.  Die monetäre Abwicklung wird über ein „virtuelles Budget“ (Bund) erfolgen, wobei auch die Kommunen ein Wörtchen mitzureden haben. 

Es ist durchaus neu, dass Berlin sich dazu aufschwingt über die Kulturhoheit der Länder hinweg die Bildungsmisere in den Griff zu bekommen. Die Kultusverwaltungen der Länder haben es nachweisbar seit 20 Jahren nicht geschafft, die Leistungsbilanz im Lesen und Rechnen zu verbessern. Es schockiert nicht so sehr die Misere, sondern das dauerhafte Ausbleiben von geeigneten Maßnahmen. Jetzt kommt also was aus Berlin.

Rund 220 Schulen in Baden-Württemberg machen sich mal wieder „auf einen Weg“, also auf den Weg in das Startchancen-Programm und zwar in das „Start-und Vorbereitungsschuljahr 2024/25“. Die Zahl der beteiligten Schulen soll noch auf 540 Schulen ansteigen. Auf der offiziellen Präsentation zum Programm heißt es „Wir richten unser Handeln konsequent an den Bedarfen der Startchancen-Schulen aus“. Aber wer ist „wir“? Das Programm ist ein „lernendes Programm“, was nichts anderes bedeutet, als dass die Schulen zwar auch gewisse Gestaltungsräume haben, aber die Entwicklung an ihrer Schule selbst leisten müssen. Die Mehrarbeit, wenn es auch gut werden soll, ist für die betreffenden Kollegien und Schulleitungen wie eine Riesenwelle am Horizont bereits sichtbar. Die Entwicklung von Konzepten und Programmen kostet, wie wir wissen, Zeit, Zeit, Zeit.                 Geleistet wird die Arbeit durch die Kollegien zusätzlich zum Tagesgeschehen, das besonders an diesen Schulen hochkomplex und belastend für Lehrkräfte und Schulleitungen ist. Genau da sind die Kinder aus prekären Verhältnissen. Die, die unter amtlicher Aufsicht stehen, die mit allen erdenklichen Arten von Defiziten in der Entwicklung, die mit Fluchterfahrungen, die ohne Sprachkenntnisse, die Armen, die Vernachlässigten, die Benachteiligten. Schlicht, die, die jetzt schon täglich den 150 %igen Einsatz der Lehrkräfte brauchen. Und dann kommen zukünftig dazu noch Entwicklungsgruppenmeetings und Besprechungen und Konferenzen zum Startchancen-Programm und und… Der Tag hat 24 Stunden, aber man will ja nicht undankbar sein. Ein „virtuelles Budget“. Das gibt es nicht alle Tage.

Natürlich sollen sich die Schulen auch noch vernetzen und austauschen und natürlich wurde ein Entlastungskontingent, sprich Anrechnungsstunden, nicht bedacht. Eine zentrale Auftaktveranstaltung in Präsenz wird im Oktober stattfinden. 

Wäre das „Sprachfit“ Programm, also die Sprachstandserhebungen, die Sprachförderung, Juniorklassen etc. nicht eine sinnvolle Voraussetzung für das „Startchancen-Programm“? Aber das Startchancen-Programm ist eher eine Bundesangelegenheit, während am „Sprachfit“-Programm in Baden- Württemberg erst noch gebastelt wird. In anderen Bundesländern, wie z.B.  Hamburg, das gern in Baden-Württemberg zu Vergleichen herangezogen wird, gibt es bereits frühkindliche Sprachtests, Förderung und was man sonst noch so braucht.                                                                Treten Politikerinnen und Politiker unter anderem nicht dazu an, Schaden vom Volk abzuwenden? Sie schwören es bei ihrer Vereidigung sogar. Danach wird das in den Mühen des Alltags wohl vergessen.

In den letzten 20 Jahren wurden in Baden-Württemberg ungefähr 100.000 Kinder jährlich eingeschult (im Jahr 2023/24 104.996, im Vergleich dazu 2003/2004 116.037 (Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg). Rund 30 % haben einen Förderbedarf von Anfang an. Lassen Sie es mich mal so formulieren: wenn man das seit Jahrzehnten mehr oder weniger ignoriert und Bildung vernachlässigt, bzw. zusieht, wie die Ergebnisse bei den verschiedenen Bildungsstudien immer schlechter werden, hat man dann als Politiker wirklich allen Schaden abgewendet? Ich sage: nein. 

Seit ungefähr 20 Jahren, um genau zu sein seit 2006 ergeben die jährlichen Tests, dass Kinder immer schlechter lesen. Bereits 2019 wurde festgestellt, dass jeder fünfte 15 Jahre alte Schüler nicht sinnverstehend lesen konnte.                                                                                                                          Man denkt jetzt in der Kultusverwaltung erneut in Jahren oder Jahrzehnten, bis irgendeine der oben beschriebenen Maßnahmen oder Programme zum Tragen kommt. Das ist nicht allein die Schuld der jetzigen Kultusverwaltung, aber sie fügt sich mühelos in die Traditionen der Vorgänger und zwar aller der letzten Jahrzehnte.

Rechnen Sie sich mal aus, wie viele Kinder und Jugendlich bisher keine bis wenig „Startchancen“ hatten. Unter Umständen sind sie schon mit sechs Jahren abgehängt, weil sie herkommen, wo sie halt herkommen und sind, wer sie sind. Rechnen Sie sich aus, was das für eine Industrienation mit Bedarf an qualifizierten Fachkräften bedeutet. Bedenken Sie, was das für eine Volkswirtschaft bedeutet, von den Verlusten hinsichtlich gesellschaftlicher und demokratischer Teilhabe ganz zu schweigen.  

Völlig losgelöst von den Schulen, schwebt das Kumi. Völlig schwerelos.

)*Die kursiven Textstellen wurden entnommen: Major Tom, Peter Schilling, 1982, WEA 

Andrea Friedrich, Vorsitzende Nordbaden und Mitglied im Landesvorstand