Wegen Corona – ein Jahresrückblick

Wegen Corona – ein Jahresrückblick

Letzte Woche wurde unsere Balkontür am oberen Balkon, Gartenseite, repariert. Was soll denn das jetzt, fragen Sie sich sicher, denn es ist ja eigentlich keine Sensationsnachricht für die VBE Homepage. Ich finde doch. Zur Sache: Unsere Balkontür war seit April defekt. Die Fensterbaufirma wurde umgehend beauftragt. Ein Monteur kam das erste Mal Mitte Juli. Ich mache es kurz: bis dieser Schaden nun letztendlich behoben wurde, eine Routinearbeit, vergingen insgesamt sieben Monate.

Ich überlasse die Unannehmlichkeiten und die mangelnde Sicherheit des Hauses Ihrer Phantasie. „Wegen Corona“, sagte mir die nette Bürokraft der Fensterbaufirma, die ich mehrfach wegen nicht erfolgter Termine kontaktierte. Vermutlich hat sich auch „wegen Corona“ glücklicherweise kein Einbrecher gefunden, der die erleichterten Voraussetzungen für einen Beutezug wahrnehmen wollte. Die Balkontür ist aber nicht das einzige. Unsere Steuer liegt wegen Corona seit April beim Steuerberater. Das Bürgeramt, in dem ich meinen Uralt-Führerschein hätte erneuern lassen müssen, war lange komplett geschlossen. Ich habe noch keinen neuen Führerschein. Wegen Corona. Der Baumschnitt im Garten kann nicht wie sonst stattfinden. „Wegen Corona“ ist der Gärtner völlig im Verzug mit seinen Aufträgen. Im örtlichen Finanzamt ist niemand erreichbar. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung bittet um Verständnis, wegen Corona. Fachärzte hatten wochenlang komplett zu, wegen Corona. Termine erst wieder im nächsten Jahr. Ich könnte noch einige Beispiele anführen. Die „wegen Corona“ Episode mit unserem Installateur erspare ich Ihnen. Aber man zeigt Verständnis für all diese Pandemie-bedingten, ärgerlichen oder lästigen Unannehmlichkeiten, die zur Zeit entstehen. Mussten die Firmen, Praxen, Behörden und Büros doch erstmal einen Modus finden, mit dieser völlig neuen unvorhersehbaren Krise umzugehen.

Ich schrieb keine wütenden Leserbriefe an die Zeitung mit der Überschrift: „Fensterbauer über Monate völlig abgetaucht“ und ich gab keine Interviews „Eventuelle Langzeitschäden im Familienleben wegen Einbruchgefahr an der oberen Balkontür “ oder ähnliches. Vermutlich ahnen die ersten jetzt, worauf ich hinauswill mit dem Artikel.

Während die Gesellschaft, mal abgesehen von ein paar kreuz und quer Denkern, relativ geduldig die Auswirkungen, die die Pandemie nun einmal hat, in fast allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens auf sich nimmt, fand der kollektive Frust zumindest bei Berichten und Einschätzungen zu den Lehrkräften und Schulen des Landes ein Ventil. Für Medien sind Eltern und ihre Geschichten vom eigenem Homeoffice plus Homeschooling, der Angst vor einer neuerlichen Fernlernsituation, abgetauchten und/oder digital unfähigen Lehrkräften und einem Schulwesen ohne jeglichen Plan, ein gefundenes Fressen. Warum während der Schulschließungen im Frühjahr einiges nicht klappte, digitales Lernen nicht auf Anhieb funktionierte und vieles für Außenstehende so unverständlich wirkte, wie meine nicht reparierte Balkontür? Wegen Corona!

Ein Pandemiegeschehen hatte uns gerade noch gefehlt im Bildungswesen. Schulschließungen und Digitalisierung, Breitbandausbau und Tabletmangel, relevante Vorerkrankung und Risikogruppen, Notbetreuung und Präsenzunterricht. Und wann geht’s wieder los an den Schulen? Geht’s überhaupt wieder los? Und nach der Öffnung: Bleiben Schulen offen, wie lange, wie überhaupt? Aufrufe vom Ministerpräsidenten, Rundbriefe des Landeselternbeirates, Videokonferenzen mit Kollegen, Maskenpflicht oder nicht, Desinfektionsmittel und Abstandsregeln. Was für ein Schlamassel. Ab Mitte März hatten die Schulen in Baden-Württemberg wegen des Coronavirus komplett geschlossen. Seit 15. Juni gab es an allen Schulen im Südwesten einen Unterricht im Schichtbetrieb im Wechsel mit Fernunterricht und mit einem abgespeckten Stundenplan. Am 29. Juni starteten Grundschulen und Kitas wieder in eine Art Regelbetrieb ohne Abstandsgebot.

Lehrkräfte im Lockdown

Zu Anfang der Pandemie herrschte, wie überall, auch an Schulen allgemeine Ratlosigkeit nach Fernsehberichten von chinesischen Märkten mit toten Tieren, Beatmungsszenarien in provisorischen Zelten und italienischen Armeefahrzeugen, die Leichen abtransportierten. Die Verunsicherung wurde von Rundschreiben aus der Schulverwaltung mit hoher Schlagzahl nicht unbedingt beruhigt oder souverän in eine klare Richtung gelenkt. Wie auch? Woher sollte denn das KM wissen, was genau richtig ist in der Situation. Selbst das Robert-Koch- Institut machte im Laufe der Zeit einen Lernprozess durch. Zur Erinnerung: Kolleginnen und Kollegen, die zu einer Risikogruppe (die Erkrankungen wurden im Schreiben aufgezählt) gehören, sollten zuhause bleiben.

Inzwischen berichtet man hämisch darüber, dass Kollegen, die nicht im Präsenzunterricht unterrichteten, nun ein Attest brauchen und wieder mehr in die Schulen kommen, da Ärzte die Vorerkrankung doch als unbedenklich einstufen. Warum hat man Atteste und damit Expertenmeinungen nicht gleich gefordert und die medizinische Einschätzung ihrer Erkrankung den betroffenen Lehrkräften selbst überlassen? Selbst Virologen waren und sind sich nicht sicher, welche Vorerkrankungen nach einer SARS-CoV-2 Infektion direkt zum Beatmungsgerät führen. Aber wie immer: schuld sind die Lehrkräfte.

Waren an den Schulen weder digitale Plattformen noch Endgeräte, noch irgendwelche Konzepte vorhanden, die ein digitales Lernen oder Homeschooling möglich machten, schuld sind natürlich die Schulen und die Lehrkräfte, die laut Stammtischmeinung, einfach „abtauchen“, wenn sie wollen. Mag sein, dass es ein paar gibt, aber die allermeisten hatten Kontakt zu ihren Schülern, so diese das überhaupt wollten.

Die Lösungen, die in Kollegien schnellstmöglich entwickelt wurden, sind beispielhaft. Viele Branchen könnten sich davon eine Scheibe abschneiden. Wo es gar nicht digital funktionierte, fuhren Grundschullehrerinnen Aufgabenpakete per Fahrrad täglich durch die Stadtteile und holten sie auch wieder ab um sie zu korrigieren. Lehrkräfte gaben Schülern ihre privaten Telefonnummern und ließen sich zu jeder Zeit anrufen, wenn es Probleme gab. Haben Sie während des Lockdowns von irgendeinem Arzt, Mechaniker oder Finanzbeamten die private Telefonnummer bekommen um ihn Freitagabend um 21 Uhr wegen einer nicht gerade lebenswichtigen Angelegenheit anzurufen? Nein? Ich auch nicht. Schulen, Lehrerinnen und Lehrer haben sich in sehr kurzer Zeit organisiert und zu Fahrradkurieren, Plattformtestern- und -nutzern, Videoregisseurinnen, Psychologischen Beratern, Motivationstrainern, Ferndiagnostikerinnen etc. entwickelt.

Übrigens sind viele Lehrerinnen und Lehrer gleichzeitig auch Eltern, die die Beschulung und Betreuung ihrer eigenen Kinder zu organisieren hatten. Nach der teilweisen Öffnung der Schulen, war die Erfahrung der Lehrkräfte mit dem Wechselunterricht weitgehend positiv. Viele Schülerinnen und Schüler profitierten von den halben Gruppen und konnten, da individuelle Förderung wirklich einmal möglich war, ihre Defizite aufholen.

Schülerinnen und Schüler im Lockdown

Bei dieser von der Pandemie betroffenen Gruppe handelt es sich nun immer noch um dieselben Personen, d.h. wir haben auch im Fernunterricht immer noch die volle Bandbreite, die wir an den Schulen halt haben: die Fleißigen, die Faulen, die Interessierten, die Desinteressierten, die Langsamen, die Fitten, die Selbständigen, die Unbeholfenen, die Netten, die Frechen, die oft nicht Auftauchenden, die während des Unterrichts unter dem Tisch was anderes machenden. Viele Schülerinnen und Schüler haben diszipliniert und geduldig trotz aller technischen und vielleicht auch didaktischen Widrigkeiten ihre Aufgaben erledigt. Viele haben die Situation aber auch genutzt um mal ordentlich zu chillen. Die in den Medien beschriebenen Massen an mangelnder Bildung verdurstenden Schülerinnen und Schülern, die vereinsamt in ihren Kinderzimmern darauf brennen, endlich die Quadratische Gleichung oder den Present Perfect Progressive lernen zu dürfen, sind ein Mythos.

Eltern im Lockdown

Ich frage mich, in welchen in der Pandemie scheinbar fehlerfrei funktionierenden Branchen Eltern eigentlich arbeiten, um während der letzten Monate so harte Kritik an Lehrerinnen und Lehrern zu üben. Folgende Problemanzeigen sind mir von Elternseite während der durch Corona bedingten Schulschließung zu Ohren gekommen: Lehrkraft (LK) schickt zu wenig Aufgaben / LK schickt zu viele Aufgaben / Aufgaben sind zu schwer / Aufgaben sind zu einfach (Hinweis: Schüler der o. g. Aussagen sind in derselben Klasse) / LK schickt Aufgaben aus dem Lehrbuch und will sich scheinbar keine Arbeit machen / LK schickt keine Aufgaben aus dem Lehrbuch, was doch logischer wäre / LK möchte die Aufgaben online zurück und verursacht Stress / LK möchte die Aufgaben nicht zurück, schickt Lösungen und verursacht Stress / LK bietet nur feste Telefonzeiten an / LK bietet leider keine festen Telefonzeiten an / LK überfordern die Eltern mit den Aufgaben / LK schickt keine Aufgaben / LK schickt keine Aufgaben, sagt das Kind.

Viele Eltern machten einen sehr guten Job und stemmten die veränderte häusliche Situation mit bewundernswerter Gelassenheit. Aber Eltern sind Eltern und Lehrkräfte sind Lehrkräfte. Die Rollen sind komplett andere. Einige Eltern entdeckten nun die Eigenschaften an ihren Kindern, die bisher ausschließlich uns Lehrkräften vorbehalten waren und die nicht mit der Persönlichkeit des jungen Menschen in Familie und Freizeit sondern mit dem Wissens- und Kompetenzerwerb verbunden sind. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Lustlosigkeit und Desinteresse an schulischen Inhalten verschwinden auch in den eigenen vier Wänden unter Aufsicht von Mutter und Vater nicht. Viele Eltern sahen scheinbar zum ersten Mal in die Hefte ihrer Sprösslinge. Das kann Stress pur sein, wenn man es nicht gewöhnt ist. Vielen Eltern tat ihr Kind sehr leid. Da war immer wieder von vielen Wochen „Ausgangssperre“ die Rede. In Deutschland gab es keine Ausgangssperre, sondern Kontaktbeschränkungen. In Spanien gab es z.B.eine Ausgangssperre, denn sieben Wochen lang durften Kinder und Eltern die Wohnung nicht verlassen. In Deutschland durfte man spazieren gehen, wandern, rennen, Rad fahren, Inlinern, Skateboarden, mit Kreide den Gehweg bemalen und noch viel mehr.

Eine aktuelle Studie (Vierter Deutscher Kinder-und Jugendsportbericht) informiert, dass 80% der deutschen Kinder und Jugendlichen den von der WHO empfohlenen 45 Minuten Sport und Bewegung pro Tag unterschreitet. Da kann ein Tag im Homeschooling lang werden. Viele Eltern sind empört, dass sie ihre privaten Geräte, Rechner, Drucker, Tablets für die Beschulung ihrer Kinder nutzen müssen. Ein Gefühl, das wir Lehrkräfte in Baden-Württemberg gut kennen. Womit, glaubt die Öffentlichkeit, bedienen wir im Homeoffice unsere Schülerinnen und Schüler mit Moodle, Mails und Videosequenzen? Etwa mit Dienstrechnern, die uns vom Dienstherrn für die Wahrnehmung unserer Aufgaben zur Verfügung gestellt wurden? Nein, liebe Mitbürger, liebe Eltern: wir arbeiten im Heimbüro mit unseren privat angeschafften Geräten, mit unseren privaten Rechnern, Telefonen und Smartphones und wir nutzen unser privates Stromnetz.

Ich sage jetzt mal stellvertretend für die Schulverwaltung, alle Eltern und Schüler und die gesamte Öffentlichkeit: „Danke allein dafür, liebe Lehrerinnen und Lehrer.“ Eines erfreute das pädagogische Gemüt: Schülerinnen und Schüler sehnten sich im Ranking direkt nach ihren Freunden nach den Lehrkräften. Also danach, dass ihnen jemand alles professionell und eventuell auch mehrmals geduldig erklärt. Eltern sind darüber erstaunt, wie sehr ihre Kinder die Lehrerin oder den Lehrer vermisst haben. Wir Lehrkräfte sind grenzenlos erleichtert. Wäre das Fazit nach den Schulschließungen:

„Läuft super ohne Lehrer“ gewesen, nicht auszudenken, was der Landeselternbeirat daraus gemacht hätte.

Lockdown Zwo (Light)

Heute, am Tag, an dem ich diesen Text schreibe, sind Schulschließungen Geschichte, da die Schulen schon seit den Sommerferien wieder offen sind und offen bleiben sollen. Ein „Lockdown Light“, d.h. ohne Schulen und Kitas, wurde aber erneut beschlossen. Auch die Universitäten in Baden-Württemberg dürfen nicht öffnen, so eine Anordnung des Wissenschaftsministeriums, auch nicht für Erstsemester, sondern nur in seltenen ausgewählten Fällen wie etwa Examen. Schulen seien keine Infektionsherde, heißt es als Erklärung. Die vom Robert-Koch-Institut empfohlene Abstandsregel kann in vollen Klassenzimmern jedoch nicht umgesetzt werden. Es werden Masken getragen.

Während nahezu alle Orte, an denen sich Menschen zu nahe kommen könnten, geschlossen sind, bis hin zu Schlossgärten und Parks, bleiben die Schulen im Präsenzunterricht. Zeitgleich verringert die Landesregierung die Testungen an Schulen. Gibt es einen Infektionsfall in der Klasse, sind Lehrkräfte und Mitschüler nur noch Kontaktpersonen zweiten Grades, müssen nicht mehr in Quarantäne und nicht zum Test. Nur noch „direkte“ Kontaktpersonen, wie etwa Sitznachbarn „könnten isoliert werden“ so ein Sprecher des Sozialministeriums in einer Pressemeldung Anfang November. Die engen, vollen Klassenzimmer, die ich kenne, generieren eigentlich nur direkte Kontaktpersonen, da sie meistens schon in Normalzeiten Vorgaben zur Raumgröße von Klassenzimmern unterschreiten. Lehrkräfte „treffen“ sich dienstlich nun teilweise am Tag mit über 100 Hausständen. Privat dürfen es nur zwei sein. Die Verantwortlichen im Land scheinen kein zweites Mal den Zorn der Eltern auf sich ziehen zu wollen, indem sie Schulen schließen oder Maßnahmen wie etwa die Teilung der Klassen zu abwechseln- dem Präsenz-und Fernunterricht anordnen. Die Schulen müssten Kindern und Jugendlichen einen geregelten Alltag bieten, heißt es. Scheinbar kann das sonst niemand. Dass Lehrkräfte eigentlich lehren und nicht betreuen, spielt derzeit keine Rolle. Besorgte Eltern lassen ihre Kinder einfach zuhause. Atteste müssen den Schulen noch nicht vorgelegt werden. Das führt in vielen Fällen dazu, dass Lehrkräfte die Klassen in Präsenz nach Stundenplan unterrichten und am Nachmittag die zuhause bleibenden Schülerinnen und Schüler nochmals per Fernlernunterricht beschulen. Es soll ja niemand Nachteile haben, außer den Lehrkräften.

Auch wenn an Schulen Coronafälle auftreten, Schülerinnen und Schüler oder Kolleginnen und Kollegen positiv getestet werden oder als Kontaktpersonen ersten Grades in Quarantäne müssen: Die Schulen bleiben offen. Auch wenn an einen geregelten Unterricht aufgrund von fehlenden Klassen, Klassenstufen oder Lehrkräften in Quarantäne nicht mehr zu denken ist: offen. Keine Ahnung, wie sich die Lage entwickelt hat, wenn Sie diesen Text lesen. Schulschließungen wünscht sich wirklich niemand. Das rollierende System aus Präsenz- und Fernunterricht, durch eine deutliche Verringerung der Gruppengrößen, ein probates Mittel zur Eindämmung der Pandemie, wird seitens des Kultusministeriums noch strikt abgelehnt. Alle bisherigen Erfahrungen mit der Pandemie zeigen jedoch: je länger man mit Maßnahmen wartet, desto härter müssen sie ausfallen. Die Fürsorge unseres Dienstherrn gegenüber uns Lehrkräften jedenfalls ließ schon immer zu wünschen übrig. Da ändert sich nichts. Trotz Corona. Passen Sie auf sich auf, bleiben Sie gesund und verlieren Sie nicht die Zuversicht.

Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Ihnen

Andrea Friedrich, Vorsitzende Landesbezirk Nordbaden, Mitglied im Landesvorstand des VBE