Angesichts der Verrohung der Umgangsformen in unserer Gesellschaft und aktueller Ereignisse wie jüngst in Chemnitz ist der sofortige Ruf der Politik nach mehr Werte- und Demokratieerziehung laut geworden. Dies hat der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg zum Anlass genommen, eine Umfrage unter Eltern und Lehrkräften zum Thema Wertorientierungen und Werteerziehung in Auftrag zu geben und hiermit einen Impuls für die Wertedebatte zu setzen. Eltern wie auch Lehrkräfte formulieren danach in überwältigender Deutlichkeit, wie wichtig Ihnen das Thema Werteerziehung und eine Orientierung an den gesetzlich verankerten Bildungs- und Erziehungszielen in Schule sind.
Über 90 Prozent der Eltern geben für 8 der 16 abgefragten Bildungs- und Erziehungsziele an, dass ihnen diese (sehr) wichtig sind, über 90 Prozent der Lehrkräfte erachten sogar 12 der 16 Bildungs- und Erziehungsziele als (sehr) wichtig“, kommentiert Gerhard Brand, Landesvorsitzender des VBE, anlässlich der heute veröffentlichten Ergebnisse. Für die Studie wurden von der Arbeitsgruppe Professionsforschung an der Universität Tübingen unter der Leitung von Dr. Martin Drahmann und Prof. Dr. Cramer in Kooperation mit forsa bundesweit 1.111 Eltern schulpflichtiger Kinder sowie 1.185 Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen befragt (jeweils mit repräsentativen Stichproben für Baden-Württemberg). Die Ergebnisse liefern erstmals einen Abgleich zwischen den Erwartungen von Eltern und den Einschätzungen von Lehrkräften zu diesem Thema.
Gleichzeitig sehen sowohl Eltern als auch Lehrkräfte klare Defizite bei der Umsetzung aller Ziele. Gründe für ein Nicht-Erreichen einzelner Bildungs- und Erziehungsziele sehen Eltern wie auch Lehrkräfte vor allem in einer unzureichenden Berücksichtigung im Lehrplan. Bezeichnend sei laut Brand, dass die Umsetzung bestimmter Ziele genau dort gelinge, wo diese im Lehrplan integriert seien. Eltern als auch Lehrkräfte beurteilen die praktische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema, etwa in Form von Projektwochen oder Workshops, als zweitwichtigsten Grund für das Erreichen bestimmter Werterziehungsziele. „Die Politik muss die Ernsthaftigkeit ihrer Forderungen nach mehr Werte- und Demokratieerziehung an Schule belegen – mit dem notwendigen Gestaltungsfreiraum für Lehrkräfte. Werte müssen erlebt und gelebt werden, dafür braucht es weniger starre Strukturen und stattdessen mehr Flexibilität und vor allem mehr Zeit. Der sich ändernde Alltag in der Gesellschaft und damit verbunden die zunehmenden Erziehungsaufgaben für Schule müssen Platz finden im starren Korsett der Leistungsorientierung. Nur so können junge Menschen eine an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung orientierte Wertehaltung entwickeln“, so Brand.
Gefragt nach aktuellen Themen in der Wertedebatte vertreten in Baden-Württemberg über 90 Prozent der Eltern und Lehrkräfte die Meinung, dass auch in einer multikulturellen Gesellschaft bestimmte Werte für alle Menschen, die hier leben, gelten müssen. Nur 3 Prozent der Lehrkräfte und 12 Prozent der Eltern halten eine Wertediskussion in Schule für überflüssig. Immerhin 59 Prozent der Eltern und sogar 76 Prozent der Lehrkräfte sehen eine Gefahr, die von einer „Beliebigkeit in der Frage um Werte“ ausgehen würde. „Schule ist ein Ort, der Schülerinnen und Schülern eine Orientierung in der Ausbildung ihrer Werthaltung geben soll und muss. Deshalb muss für Schule ein universell geltender Gesamtkanon an zu vermittelnden Werten gelten“, fordert Brand.
Hinsichtlich der Frage, wie wichtig bestimmte Akteure bei der Vermittlung von Werten gegenüber Kindern und Jugendlichen sind, betonen nahezu alle Eltern und Lehrkräfte die bedeutsame Rolle des Elternhauses. Eine große Mehrheit der Eltern und Lehrkräfte gibt zudem an, dass folgend mit ähnlicher Bedeutung auch Schule, die Partnerin bzw. der Partner, der Freundeskreis und der Eigeneinfluss eine wichtige Rolle spielen. Was die Umfrage auch zeigt: Nur ein Drittel der Eltern und Lehrkräfte geben an, dass die Kirche beziehungsweise Religionsgemeinschaft wichtig ist.
„Die Politik muss Schule adäquater und entschiedener dabei unterstützen, gerade die jungen Menschen in ihrer Entwicklung einer reflektierten Werthaltung zu fördern, bei denen dies durch deren sozialen oder kulturellen Hintergrund nicht ausreichend gegeben ist. Nur so können wir negativen Auswirkungen auf die weitere Biografie dieser jungen Menschen und auf uns als Gesamtgesellschaft entgegenwirken“, betont Brand.
Der VBE Baden-Württemberg fordert:
- Basierend auf einem Diskurs von Politik und Gesellschaft die Verständigung auf einen gemeinsamen Wertekanon, der Orientierung für alle Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern bietet.
- Entschiedenes Handeln von der Politik, welches für die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen, Rahmenbedingungen und Unterstützungsleistungen sorgt. U. a.:
o die Einsetzung multiprofessioneller Teams,
o adäquate Voraussetzungen für die Erziehungspartnerschaft zwischen Lehrkräften und Eltern.
- Ein verbessertes, intensiveres und standardisiertes Angebot von Veranstaltungen zur Werteerziehung in allen Phasen der Lehreraus- und -fortbildung, welches die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Werteverständnis zum Ziel hat.
- Die Bereitstellung einer zeitgemäßen technischen Infrastruktur an Schule, um einen reflektierten Umgang mit Medien als einem wichtigen Akteur bei der Wertevermittlung fördern zu können.
- Ein verstärktes gesellschaftliches Engagement, welches außerschulische Angebote an Schule heranträgt und Lehrerinnen und Lehrer bei der Werteerziehung unterstützt.