Umfrage „Inklusion aus Sicht der Lehrkräfte“: Inklusion in weiten Teilen nicht umsetzbar

„Inklusion ist unter den momentanen Bedingungen in weiten Teilen nicht umsetzbar. An den Schulen sind weder die baulichen noch personellen Voraussetzungen gegeben. Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Lehrkräfte für Inklusion bisher weder ausgebildet, noch hochwertig fortgebildet sind“, fasst der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand die repräsentative forsa-Studie zur Inklusion an Schulen zusammen. Der VBE hat die Studie heute im Rahmen einer Landespressekonferenz im Medienzentrum des Landtags vorgestellt.

Die Umfrage wurde vom VBE bereits das fünfte Mal in Auftrag gegeben. Sie liefert damit nicht nur einen Einblick in aktuelle Bedingungen, sondern auch einen Längsschnittvergleich. Die befragten 500 Lehrkräfte allgemeinbildender Schulen in Baden-Württemberg bewerteten auch die Auswirkungen der coronabedingten Einschränkungen auf die Inklusion.

Nutzt die Politik alle verfügbaren Mittel, um das politisch ausgerufene Ziel der Inklusion in Schulen zu verwirklichen? Und: Von welchem Ziel sprechen wir denn bei realistischer Betrachtung der Sachlage?  „Mit Blick auf unsere Umfrageergebnisse sage ich ganz klar: Nein, wenn man inklusive Settings in zieldifferenten Gruppen als Ziel setzt, dann erreichen wir dieses Ziel so nicht! Und: Noch einmal Nein! Denn wir nutzen die verfügbaren Mittel nicht aus. Das liegt, wie so oft, in den verschiedenen Zuständigkeiten, die sich gerne im miteinander und gegeneinander verlieren! Und: Dann kommt doch ein Ja! Denn in all den Wirren versuchen die politisch Zuständigen das Spagat, zwischen Ideologie, Realismus, pädagogischer Vernunft und Ressourcen auszubalancieren und einen Kompromiss zu finden. Und es ist, wie es mit den meisten Kompromissen ist: Es ist niemand so richtig zufrieden!“, erläutert Brand.

Zustimmung zu Inklusion

Während 56 Prozent der Lehrkräfte die gemeinsame Beschulung grundsätzlich sinnvoll finden, sagen nur 23 Prozent, dass dies praktisch sinnvoll umsetzbar ist. „Ein fatales Zeugnis nach 11 ½ Jahren Bewährungsprobe“, kommentiert Brand.

Demgegenüber sprechen sich über alle Schularten hinweg neun von zehn Lehrkräften dafür aus, die bisherigen Förder- und Sonderschulen zu erhalten. „Dies spricht für den ausgezeichneten Ruf und die herausragende Arbeit, die dort geleistet wird. Um diese Arbeit nach wie vor auf hohem Niveau halten zu können, ist das Studium der Sonderpädagogik unerlässlich! Es ist eine klare Absage an den Sonderpädagogen light, der in der vergangenen Regierungsperiode immer wieder zur Diskussion stand. Der VBE erkennt hierin auch die klare Botschaft an die Politik, die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren zu unterstützen und hochleistungsfähig zu halten,“ so Brand.

Lerngruppengröße, Unterstützung

Die durchschnittliche Schülerzahl inklusiver Klassen steigt weiter an: Ein Kind mehr als noch 2019 ist in einer inklusiven Lerngruppe, im Vergleich mit 2016 sind es sogar 4 Kinder mehr. „Dies ist eine äußerst Besorgnis erregende Entwicklung. Jedes Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf stellt eine zusätzliche Herausforderung für den Unterricht und die betreffenden Lehrkräfte dar. Nur in kleinen Klassen und mit Unterstützung durch eine ausreichende Stundenzuweisung durch die Sonderpädagogik, können die Schülerinnen und Schüler inklusiver Klassen angemessen gefördert werden“, erklärt Brand. Für eine optimale Unterstützung der Lehrkräfte sind zudem multiprofessionelle Teams bestehend aus Schulpsychologen, Pädagogischen Assistenten und Schulsozialarbeitern nötig. Diese gibt es aber nicht einmal an einem Drittel der Schulen.

Vorbereitung und Qualifizierung

23 Prozent der befragten Lehrkräfte gibt an, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer, die eine inklusive Lerngruppe übernommen haben, darauf höchstens eine Woche vorbereiten konnten. Über die Hälfte sagt, dass die inklusiv unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen keine sonderpädagogischen Kenntnisse haben. 51 Prozent der inklusiv unterrichtenden Lehrkräfte berichten, dass es keine speziellen Fortbildungen gab. Die Lehrkräfte bewerten das Fortbildungsangebot dementsprechend mit der Note 4,1. Der Landesvorsitzende kritisiert: „Die Lehrkräfte werden ohne angemessene Vorbereitung in die neue Situation gebracht. Dies ist nicht nur gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern unverantwortlich, sondern genauso gegenüber den Kindern.“

Barrierefreiheit

Nur 15 Prozent der Schulen sind vollständig barrierefrei. Die Hälfte der Schulen ist überhaupt nicht barrierefrei. Kleingruppen und Differenzierungsräume gibt es nicht einmal an der Hälfte der Schulen. Brand: „Wenn Inklusion nach fast 12 Jahren immer noch an der Barrierefreiheit scheitert, brauchen wir eigentlich nicht weiter über Inklusion zu reden.“

Corona

Zwei Drittel der Befragten geben an, dass die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen während der Schulschließungen keine ausreichende Förderung erfahren haben. Über die Hälfte der Lehrkräfte sagen, dass bei den Schulöffnungen die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen nahezu vergessen wurden. 72 Prozent der Befragten berichten, dass die coronabedingten Einschränkungen zu einem Rückschritt bei der Inklusion geführt haben.

Forderungen
  1. Der Erhalt der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ist zwingend notwendig – sie müssen mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet sein.
  2. Die Verantwortung für inklusiv beschulte Kinder muss weiterhin in den Händen der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen liegen.
  3. Die Lehrkräfte, die in inklusiven Settings arbeiten, sind im Vorfeld auf ihre schwierige Aufgabe vorzubereiten und qualitativ hochwertig und nachhaltig fortzubilden.
  4. Die Klassengröße ist bei inklusiver Beschulung zu reduzieren und darf die Maximalanzahl von 20 Schülerinnen und Schüler nicht überschreiten. Kinder mit festgestelltem Förderbedarf sind dabei doppelt zu zählen. Die Unterstützung im inklusiven Unterricht muss sich zudem an der Behinderungsart und der Schwere der Behinderung orientieren.
  5. Schulen mit inklusiven Klassen sind barrierefrei zu gestalten.

 

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