Gerhard Brand, VBE-Landesvorsitzender zum Koalitionsvertrag
Schon vor der Regierungsbildung waren die Inhalte des Koalitionsvertrages bekannt. Vierzehn von insgesamt 93 Seiten sind der Bildung gewidmet, ein knappes Sechstel immerhin.
Trotz aller anfänglicher Skepsis ist festzustellen: Es liest sich zunächst einmal gut! Alles scheint möglich zu sein. G8 neben G9, differenzierte Systeme neben Gemeinschaftssystemen, ein zehntes Schuljahr für alle und vieles mehr. Die Ankündigungen im Koalitionsvertrag kommen einem Füllhorn gleich, das über der Bildung ausgeschüttet wird.
Nichts von dem Bekannten und Bewährten wird gestrichen. Das differenzierte Schulsystem mit Grundschule, Hauptschule, Werkrealschule, Realschule, Gymnasium und Sonderschulen wird nicht abgeschafft. Das wird manchen ruhiger schlafen lassen. Aber die Entwicklung beginnt! Es ist kein Geheimnis, die Grünen, wie auch die SPD wollen die Gemeinschaftsschule. Eine Gemeinschaftsschule, die auch das Gymnasium beherbergen soll. Die von Klasse fünf bis Klasse zehn geht. Die zwingend eine Ganztagsschule ist, voll gebunden. Diese Gemeinschaftsschule wird nun auch in Baden-Württemberg kommen, aber sie kommt auf freiwilliger Basis. Wer so weitermachen möchte wie bisher, der darf das, und wer eine Gemeinschaftsschule errichten möchte, der kann einen Antrag stellen. Die Parallelen zu Nordrhein-Westfalen sind deutlich. So deutlich, dass sich ein Blick über den Zaun lohnt. Seit dem Regierungswechsel in Düsseldorf im Juli 2010 von Jürgen Rüttgers zu Hannelore Kraft mit der grünen Schulministerin Sylvia Löhrmann herrscht dort genau das Modell, das die neue baden-württembergische Landesregierung einzuführen gedenkt. Mit Datum vom Januar 2011 hatte Nordrhein-Westfalen von 19 Anträgen auf Einrichtung einer Gemeinschaftsschule 17 genehmigt. Warum zwei Anträge nicht genehmigt wurden, liegt daran, dass sie die grundlegenden Voraussetzungen zur Genehmigung nicht erfüllten. Eine der Voraussetzungen lautet beispielsweise: „Die Gemeinschaftsschule entsteht in der Regel durch die Zusammenführung bestehender Schulen.“ Das Vorhaben ist auf sechs Jahre angelegt und soll wissenschaftlich begleitet werden.
Kommunen, die vor kurzem noch um ihren Schulstandort zitterten, wittern jetzt Morgenluft. Denn der grün-rote Koalitionsvertrag der baden-württembergischen Landesregierung sagt deutlich:
„Die Gemeinschaftsschulen sollen besonders im ländlichen Raum wohnortnahe Schulstandorte mit einem breiten Bildungsangebot sichern.“ Da zu vermuten ist, dass sich die Voraussetzungen zur Genehmigung bei den beiden Bundesländern nicht allzu sehr unterscheiden, wird es – bei allem Wohlwollen – etwas schwierig, eine Stringenz in Kausalität und Aussage zu erkennen. Wenn Schulen zusammengeführt werden, dann werden nicht zwingend wohnortnahe Schulstandorte gesichert. Zumindest nicht flächendeckend! Wo Hauptschule, Realschule und Gymnasium in einem Ort vertreten sind – was im ländlichen Raum eher selten der Fall sein dürfte –, kann es funktionieren. Wo die Hauptschule die einzige Schulart ist, ist sie weg. Sie wird im Nachbardorf mit der Realschule und dem Gymnasium fusioniert werden. Also gerade im ländlichen Raum wird es nicht funktionieren!
Die ersten Schreiben der Kommunen an die Schulleitungen sind eingetroffen. Der Inhalt: „… bitten wir die Schulleitung um Vorlage eines Planes, wie die Weiterentwicklung der Schule aussehen wird …“. Das nennt man nach vorn gedacht! Zum einen ist es Sache der Kommune, diesen Antrag zu stellen „… Grundlage ist ein Beschluss des Schulträgers …“, so steht es im Koalitionsvertrag. Zum anderen ist es korrekt, wenn die Kommune die Schulleitung einbindet. Aber in was, um Gottes Willen, sollen die Schulleitungen denn eingebunden werden? Der Koalitionsvertrag stellt eine Absichtserklärung dar in dem Sinn: „Das wollen wir so machen, wenn wir die Regierung übernommen haben.“ Nicht mehr! Da ist noch nicht im Entferntesten geklärt, welche Rahmenbedingungen vorliegen müssen, damit eine Genehmigung erfolgreich sein kann. Vielleicht orientiert sich Stuttgart an Düsseldorf – das wäre neu! Aber es sind auch sehr landesspezifische Fragen zu klären: die Finanzierung. Wie wird für eine Ganztagsgemeinschaftsschule das Personal finanziert werden? Wie die Lehrerbildung und das Laufbahnrecht? Welche Lehrer sollen in einer Gemeinschaftsschule unterrichten? Die Absicht von Grün-Rot, den Stufenlehrer einzuführen, würde diese Frage beantworten und die aktuell noch unpassende Situation entschärfen. Wie lange dauert es, bis die Studienordnungen geändert, die daraus folgenden Prüfungsordnungen angepasst sind und die ersten Studierenden die Hochschule mit Bachelor oder Master durchlaufen haben? Möglicherweise vergeht mehr Zeit, als eine Legislaturperiode dauert. Niemand kann vorhersagen, was die nächsten Wahlen bringen werden, und so kann auch niemand vorhersagen, ob so ein grundlegender Prozess der Veränderung während des Laufes gestoppt oder ob er fortgeführt werden wird.
„… bitten wir die Schulleitung um Vorlage eines Planes …“, den hätten wir selbst gerne! Wir wissen, die Inklusion soll ohne Wenn und Aber umgesetzt werden. Wir wissen, die aktuelle Werkrealschule soll so nicht fortgeführt werden. Wir wissen, die Bildungshäuser werden nicht weiter aufgelegt und finanziert werden. Wir haben keine Ahnung, was stattdessen kommen soll und wie das, was kommen wird, ausgestaltet werden soll. Bei allem Respekt, auch die Landesregierung wird wohl die Antwort schuldig bleiben. Aber das Schuljahr neigt sich dem Ende zu, und so viele Fragen, die zum Planen des kommenden Schuljahres beantwortet gehören, sind offen. Unter diesen Voraussetzungen kann eine in die Zukunft gerichtete Planung nicht erfolgen. Wir machen zunächst also weiter, wie gewohnt – auch wenn sich`s vielleicht nicht lohnt.
Da Bildung von Kontinuität, von Ruhe, Sorgsamkeit und Weitblick lebt, ergeht die dringende Bitte des Verbandes Bildung und Erziehung VBE an die Regierung, Sorge dafür zu tragen, dass nicht Prozesse eingeläutet werden, die nicht sinnvoll und sicher eingeführt, verlässlich fortgeführt und dauerhaft umgesetzt werden können. Der Scherbenhaufen in der Bildung wäre immens. Zu oft haben wir Schulleiter Reformen mitgetragen, Veränderungen herbeigeführt, Neuerungen implementiert, Entwicklungen evaluiert und anschließend wieder alles eliminiert. Wie oft haben wir nach Kontinuität gerufen und nach Ruhe im System. Es geht nicht um die viele unnütze Arbeit, die diese temporären Anforderungen hervorgebracht haben, das ertragen wir mit Demut. Es geht vielmehr um die enttäuschten Menschen, die zurück geblieben sind. Die Lehrer, die sich ans Werk gemacht und diese Prozesse mitgestaltet haben, die sie passgenau für die Situation an ihrer Schule zurecht gefeilt haben. Es geht um die Eltern, die geglaubt haben, dass neue Konzepte ihre Kinder nach vorn bringen. Es geht um die Kinder, die zum Spielball politischer Feldversuche wurden. Es geht immer um die Menschen und es geht um Vertrauen!
Wenn Sie jetzt fragen: „Wo fließen denn nun Milch und Honig?“ „Im Märchenland, geneigte Leserinnen und Leser, nur dort!“
Es grüßt Sie herzlichst
Ihr Gerhard Brand
VBE-Landesvorsitzender
Auszüge aus dem Koalitionsvertrag
Inklusion:
Umsetzung der Inklusion in vollem Umfang auch für die frühkindliche Bildung! Schaffung von räumlicher, sächlicher und personeller Ausstattung. Es gilt das Zwei-Pädagogen-¬Prinzip. Sonderpädagogen sind ausdrücklich erforderlich!
Elementar- und Primarbereich:
Eigenständiger Bildungsauftrag für die Kindertageseinrichtungen. Mehr Personal und eine Qualifizierungsoffensive. Sprachförderung mit Mitteln des Landes.
Kein weiterer Ausbau der Bildungshäuser mit Landesmitteln.
Bessere und flächendeckende Kooperation zwischen Grundschule und Kindertagesstätte.
Primar- und Sekundarbereich:
Abschaffung der Grundschulempfehlung
Ganztagsschulprogramm
Innovationspool für Gemeinschaftsschulen
Sonderpädagogische Förderung von Kindern mit Behinderungen in der Regelschule.
Sonderprogramm gegen Unterrichtsausfall
Zehntes Schuljahr für alle Schüler an Haupt- und Werkrealschulen. Der Hauptschulabschluss kann auch nach Klasse 10 erworben werden. Keine Auslagerung von Unterricht in der zehnten Klasse der Werkrealschule an die Berufsschule. Streichung der Wahlpflichtfächer, dafür breite berufliche Orientierung.
Stärkung der Realschulen
Alle Fächerverbünde werden kritisch geprüft.
Lehrerausbildung und Schulleitung:
Mehr Mitentscheidungskompetenz der Schulkonferenz und des Schulträgers bei der Besetzung von Schulleitungsstellen.
Schulartbezogene Ausbildung zugunsten des Stufenlehramts.
Umsetzung des Bolognaprozesses in der Lehramtsausbildung. Aber keine klare Aussage, ob der Bachelor- oder der Masterabschluss für Lehrer das Ziel ist (Nordrhein-Westfalen: Zehn Semester für alle und Master als Abschluss).
Neue Beurteilung der Arbeitszeit der Lehrer.
Der komplette Koalitionsvertrag der grün-roten Landesregierung steht auf der Homepage des VBE Baden-Württemberg für Sie zum download bereit.