Warum läuft einer Amok? Was richtet das an?

Der Kinofilm „Staudamm“ tastet sich an solche Fragen heran – in Form einer zarten Liebesgeschichte.

Es ist ein Spielfilm, und es geht um einen Amoklauf an einer Schule, doch es fällt kein einziger Schuss. Niemand tötet vor der Kamera, niemand stirbt vor der Kamera. All das passiert im Kopf der Zuschauer, während zwei Leute darüber reden und die Schauplätze des Geschehens aufsuchen: Roman (Friedrich Mücke), Anfang 20, Typ gelangweilter, akademischer Großstädter, der als Anwaltsgehilfe jobbt; Laura (Liv Lisa Fries), Oberstufenschülerin, Typ unbefangenes, selbstbewusstes Mädchen, das das Massaker überlebt hat. Roman ist in die Kleinstadt gereist, um für den Anwalt, dem er zuarbeitet, Prozessakten abzuholen. Doch er muss tagelang darauf warten und kommt derweil nicht nur Laura näher, sondern durch die Gespräche mit ihr auch dem, was im November des Vorjahres passiert ist. Und immer drängender wird die Frage: warum ist es passiert? 

Warum beschließt einer, auf brutalstmögliche Weise Schluss zu machen mit Mitschülern, Lehrern und sich selbst? Und was macht das mit den Hinterbliebenen, mit Unbeteiligten,   mit potentiellen Tätern? Solche Fragen haben die Drehbuchatoren Christian Lyra und Thomas Sieben nach der Amoktat in Erfurt nicht mehr losgelassen. Solche Fragen beschäftigen Hauptfigur Roman erstmal gar nicht. Er jobbt für einen Anwalt, spricht ihm protokollierte Zeugenaussagen beliebiger Prozesse auf Band. Was er von Amokläufern halte, fragt ihn der Anwalt. Roman antwortet: „Keine Ahnung, hab ich noch nicht drüber nachgedacht.“ Das ändert sich. Und so wird der Film nicht nur zur dialogisch sich entwickelnden Geschichte einer unfassbaren Tat sondern auch zur Geschichte der Verwandlung eines indifferenten Menschen in einen berührbaren.

Auch Laura verwandelt sich vor den Augen der Zuschauer: Vom kiffenden Hippie-Mädchen in ein seelische Qualen durchlebendes Opfer. Es stellt sich heraus: Laura hat damals ihre beste Freundin verloren, wollte sich umbringen, geistert immer wieder nachts durch das leerstehende Schulgebäude. Das tut sie dann auch mit Roman. Anfangs tollen sie im fahlen Licht durch kahle Gänge, doch unvermittelt bricht der Abgrund des Traumas auf.

Alles in diesem Film entwickelt sich aus einer Art Nebel: Roman ist immer wieder umhüllt vom Dunst seiner Zigaretten, November-Nebel umwabert die grau-braune Voralpenlandschaft der Kleinstadt. Während der Zuschauer Roman dort joggen sieht, hören sie ihn aus dem Tagebuch des Täters lesen. Das hat er von Laura bekommen, zu der der Mörder eine sehr eigenwillige Beziehung pflegte, wie aus dem Text hervorgeht. Krude, selbstmitleidige Sätze liest Roman. Sätze, wie sie reale Schulmörder tatsächlich hinterlassen haben. „Ich hasse die Menschen nicht, sie tun mir leid“, liest Roman vor, „bald erlöse ich sie alle“. Romans Reise wird zu einer Reise ins „Herz der Finsternis“, wie Lyra sagt.

Während die Not des Mädchens immer deutlicher erscheint, wächst die Vertrautheit zwischen ihr und dem Besucher. So wie der ruhig erzählende Film jedes „pornografische Zeigen von Gewalt“ (Lyra) vermeidet, vermeidet er es auch, die beiden nachts im Hotelbett zu zeigen. Zu beobachten ist das zarte Wachsen einer Beziehung. Eine Art Gegenentwurf zur trostlosen Welt, von der sich der Täter umgeben sah. Ein Junge von 18 Jahren.

Chris Bleher

 

Bester Jugendfilm

„Staudamm“ kommt am 30. Januar in die deutschen Kinos. Der Spielfilm lief auf mehreren nationalen und internationalen Filmfestivals und gewann unter anderem in Cottbus den Preis für den besten Jugendfilm. Der BLLV unterstützt sein Erscheinen ebenso wie die Dominik-Brunner-Stiftung und die Stiftung gegen Gewalt an Schulen. Der Film wird als Special bei den Schulkinowochen im Frühjahr angeboten. Das Drehbuch schrieben Grimme-Preisträger Christian Lyra und Thomas Sieben (zugleich Regie). Produktion: milkfilm; Koproduktion: ZDF/arte/ARRI. Mehr unter: www.staudamm-film.de